Die Klinik

TKS

Am Nachmittag steht TKS auf dem Programm. Ich frage in die wartende Runde, ob mir Jemand erklären könne, was denn diese Abkürzung bedeute.

„Oh, Ich glaube, das steht für Therapie gegen Konzentrations-Störungen“, meint einer aus der Runde, der schon länger dabei ist.

„Nee, das war was Länger“, widerspricht eine ältere Frau. „Irgendwas mit Sozial.“

„TKS bedeutet Training für kompetentes Sozialverhalten“, wirft wieder eine Andere ein.

„Nee, nee, da war sicher was mit Kommunikation dabei“, insistiert die Nächste.

So geht es eine Weile weiter, bis wir uns einig sind, dass keiner genau weiß, um was es eigentlich geht. Als der Therapeut herein kommt, ist seine erste Frage:

„Wer kann denn den beiden Neuankömmlingen erklären, was TKS bedeutet?“

Schallendes Gelächter. Es stellt sich heraus, dass es bei TKS um „Training für Kommunikation und Sozialkompetenz“ geht. Also mein Spezialgebiet, sozusagen.

In TKS gelten drei einfache Regeln. Alles was in diesem Raum gesagt wird, bleibt in diesem Raum. Diese Regel ist mir schon von einem USA-Urlaub vertraut. „What happens in Vegas, stays in Las Vegas“, hieß es dort nicht ohne Grund. Damit kein Außenstehender das Gesprochene von den Lippen ablesen kann, werden die Vorhänge zugezogen. Die zweite Regel betrifft den respektvollen Umgang miteinander, also nicht beißen, spucken, kratzen, schlagen, lügen, fluchen oder an den Haaren ziehen und vorzugsweise in Ich-Botschaften kommunizieren. Also nicht „Du Vollpfosten!“, sondern „Ich persönlich finde, dass du ein Vollpfosten bist!“. Die dritte Regel beschreibt die Selbstfürsorge: Wem zu warm ist, der öffnet das Fenster, wem zu kalt ist, der macht es sofort wieder zu, wer pinkeln muss, geht aufs Klo, wer nicht reden will, der muss nichts sagen, wem es emotional zu anstrengend wird, der geht raus, wer Hunger hat, packt sein Vesper aus. Solche Dinge eben.

Die erste Stunde vergeht damit, dass wir beiden Neuen vorgestellt werden und eine Teilnehmerin verabschiedet wird. Dann ist noch Zeit für eine Abschlussrunde, bei der Jeder seine momentane Stimmung auf einer Skala zwischen 1 und 10 einordnen darf. Null gibt es auf dieser Skala nicht, denn mit Null wären wir ja nicht mehr hier. Also Suizid, vermutlich. Eine 10 riecht nach vorzeitiger Entlassung, daher wähle ich eine optimistische 8 mit Potential für 9, was bei meiner Nebensitzerin einen spontanen Weinkrampf auslöst.

Der Therapeut erkundigt sich, welche Gefühle meine Äußerung ausgelöst haben.

„Der ist schon in der ersten Stunde über 8, und ich bin nach vier Wochen immer noch nicht über 4 raus gekommen“, schluchzt sie, während der Therapeut routiniert die Schachtel mit den Papiertaschentüchern herüber reicht. In den nächsten Terminen wähle ich eine bescheidene 6 und ziehe meine Mundwinkel absichtlich etwas nach unten. Sozialkompetenz hat ja auch etwas mit Anpassung an die Gruppe zu tun.

Beim nächsten Termin geht es um Gefühle. Mir wird etwas mulmig, denn als einziger Mann in dieser Runde bin ich eindeutig benachteiligt. Immerhin fühle ich mich bei dem theoretischen Teil einigermaßen sattelfest, denn ich kenne beide Arten von Gefühlen, die es gibt, nämlich positive und negative Gefühle. Und ich kann sie eindeutig unterscheiden. Die negativen Gefühle sind die, die man nicht zeigt, sondern in sich hinein frisst.

Dann spielen wir uns gegenseitig Gefühle pantomimisch vor und reden hinterher darüber.

Ein Albtraum!

Ich bin dann ganz erstaunt, wie viele Emotionen es gibt, von denen ich keine Ahnung hatte. Die Frauen zählen problemlos eine ganze Reihe von Gefühlen auf: Freude, Ärger, Trauer, Überraschung, Wut, Ekel, Angst. Und das sind nur die Grundgefühle. Dazu kommen noch etwa zwei Millionen Nebengefühle. Man lernt als Mann eben nie aus.

Zum Schluss kommt die Frage auf, ob Männer auch weinen dürfen. Das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn die Antwort liegt auf der Hand: Selbstverständlich dürfen Männer weinen. Jeden Samstag, wenn der Lieblingsclub in der Fußball-Bundesliga verliert.

Waldlauf

Das Wochenende zieht sich ohne Programm endlos dahin. Ich fühle mich wie ein Porsche, den man auf der Autobahn bei Tempo 200 in den Leerlauf schaltet. Der Motor dreht hoch, aber es tut sich nichts. Und genau wie der Sportwagen brauche ich ziemlich lange, bis ich von meinem gewohnten Tempo auf die hier vorherrschende Super Slow Motion ausrolle. Das Fachwort dafür lautet Entschleunigung. Am Sonntag raffe ich mich vor dem Mittagessen zu einem kleinen Waldlauf auf. Da ein Mann immer den Weg findet, nehme ich kein Handy mit und jogge friedlich durch den herbstlichen Wald. Nach fünfundvierzig Minuten reicht es mir und ich mache mich auf den Heimweg. Irgendwo muss ich dann wohl falsch abgebogen sein. Das spielt aber keine Rolle, denn es gibt hier mehr als genug Schilder.

Schilder im Wald
Schilderwald

Ich wähle eine der drei Richtungen, die nach Bad Dürrheim zurück führen und bin nach einer halben Stunde wieder an der selben Stelle. Auch der zweite Versuch bringt mich wieder an dieses verflixte Schild zurück. Inzwischen tun mir die Beine weh. Beim dritten Versuch lande ich schließlich am Ortseingang von Bad Dürrheim, allerdings kommt mir die Gegend völlig unbekannt vor.

Total verschwitzt und außer Atem stolpere ich aus dem Wald und frage ein älteres Ehepaar nach dem Weg in meine Klinik.

„Am besten warten Sie hier auf den Bus, der müsste in einer halben Stunde kommen“, meint der Mann mit einem skeptischen Blick auf meine zitternden Beine.

„Hermann, komm jetzt, wir müssen los“, wirft die Frau ein und versucht, ihn von mir weg zu ziehen.

„Auf den Bus kann ich nicht warten“, sage ich. „Wenn ich nicht pünktlich beim Essen erscheine, schicken die eine Suchmannschaft. Wie spät ist es eigentlich?“

„Hermann, nun komm schon, der junge Mann wird schon zurecht kommen“, nörgelt die Frau wieder mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck.

Als ich wieder weiter laufe, höre ich noch, wie die Frau zu ihrem Mann sagt: „Das ist wieder einer von denen, du weißt schon, Hermann. Die haben doch letzte Woche erst welche mit dem Hubschrauber gesucht. Bring dich doch nicht immer so in Gefahr!“

Unterwegs entdecke ich ein Schild mit dem Hinweis „Psych. Klinik“. Eine äußerst unglückliche Abkürzung für Psychosomatik, finde ich, denn auch Psychiatrie und Psychopath werden so abgekürzt.

Völlig am Ende erreiche ich schließlich mein Ziel. Nach einer Kurzdusche schleppe ich mich mit einer Viertelstunde Verspätung in den Speisesaal. Unterwegs kommt mir Oberschwester Ratched entgegen, die mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick auf ihre Uhr wirft.

Beobachtungen (3)

Am Buffet macht die Depression Pause. Egal wie groß die Antriebslosigkeit tagsüber ist, am abendlichen Buffet werden beide Ellbogen ausgefahren und es geht zu, wie an den Schnäppchen-Tischen im Mittelgang bei Aldi. Da wird man als höflicher Mensch schnell mal in der Schlange nach hinten durchgereicht und muss mit den Resten vorlieb nehmen.

22 Kommentare zu „Die Klinik“

      1. Auch Lehrer sind nur Menschen. Gerade in Deutsch braucht man den, dem der Stil zu schreiben gefällt. Ich hatte jahrelang eine Deutschlehrerin, die meinen Stil liebte und dann kam so einer im Trachtenanzug, da war ich ganz schnell von 1 auf 4…😉

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  1. Hi Marco,
    sehr lustige Geschichte, ich hatte viel Spaß beim Lesen.
    Schön, dass Du in dieser Klinik auch irgendwie Deinen Spaß hattest.
    Liebe Grüße,
    Petra

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  2. So, eben habe ich deine Geschichte fertig gelesen. Die beste therapeutische Maßnahme, da belustigend (lachen ist gesund…) und abschreckend zugleich. Da überlegt man sich das zweimal mit dem Burnout… 😉

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  3. Ich kenne derlei Kliniken durchaus auch von innen. Wobei mir eingangs auffiel: Reha(bilitation)sklinik zur (Irgendwas, hier Burnout)Prophylaxe? Da hat sich ein gewisser Widerspruch eingeschlichen. Absicht des Autors oder Fehler der Rentenversicherungsträger?
    Und ja, man erlebt allerlei. Mit Patienten, mit Personal, mit dem bekannten Alltagsgespenst, das sich strikt nach Herrn Murphys Gesetzgebung ausrichtet, dabei aber oft eine schräge Art von Humor entwickelt. In dem Fall schon das verfallende Gemäuer nebenan. Das Stöhnen im Keller wird ja vermutlich von einst dort vergessenen Patienten kommen. Aber inzwischen werden die sich ja dran gewöhnt haben, besser nicht nachschauen.
    In „Als ich in jenem Dorfe lebte“ (Warnung vorangestellt, das ist sehr lang) darf der Arzt irgendwelche Chakren suchen. Bei mir war das anders. Die lernte ich in einer solchen Klinik kennen und benannte der, freilich in ganz anderem Ambiente, ausübenden altindischer Körperweisheiten meine diesbezüglichen, schulmedizisch – nüchtern -europäischen BEdenken. Es wurde dann noch ganz lustig, genauso mit dem Nadelmann, der unbedingt meinte, er müsse mir irgendwelche Piekser versetzen und mich aussehen lassen wie eine weitere Figur in so einem amerikansichen Horrorfilm.

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    1. Dann kannst du meine Erlebnisse ja gut einordnen, wenn du auch die andere Seite kennst 😁. Das Fachpersonal war jedenfalls ganz begeistert von meinem Bericht. Der vermeintliche Widerspruch mit der Prophylaxe in einer Reha-Klinik war übrigens kein Fehler sondern eine Innovation. Sich helfen lassen, bevor es einen völlig umhaut, ist sehr sinnvoll.

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      1. Absolut sinnvoll! Bloß müßte man die Kliniken umbenennen. Prophylaxe hat in unserer Welt ohnehin zu wenig Stellenwert, egal ob Klimawandel, Abrüstung (ich weiß, das ist derzeit ein bäh-Wort), Umweltschutz, Gesundheit… Wie wär’s mit Prophylaxitionsklinikum? Prophylaxation klingt noch blöder, Noch mal nachdenken…

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  4. Neue Erfahrung, wenn auch diesmal nicht die Eigene: Wer krank wird, wird aus der RehaKLINIK rausgeschmissen. Schon so ein kleiner, allgemein bekannter (außer bei denen, die ihm grundsätzlich die Existenz absprechen und auch sonst meist in einer selbst zusammengezimmerten Welt leben) Virus genügt… Womit begründen die eigentlich den Begriff Klinikum?

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  5. Ahh, ich habe Volleyball immer gehasst und musste bei deiner Spielbeschreibung so lachen, dass mein Mann sich schon anfing, Sorgen zu machen. Dann wollte ich ihm das vorlesen, ging nicht, weil ich so lachen musste. Solltest du irgendwann ein Buch rausgeben, sag Bescheid. Ich kauf‘s.

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    1. Oh danke, danke. Wenn ich deine Lachmuskeln ein wenig trainieren konnte, dann hat sich das Schreiben gelohnt. Ein Buch hab ich bisher nicht geplant, aber es gibt auf meinem Blog ja noch jede Menge andere Geschichten.

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