Die Klinik

Die Tischgesellschaft

Im Speisesaal der Klinik gelten ebenfalls klare Regeln: Um 07:15 Uhr gibt es Frühstück. Nicht ab 07:15 Uhr, wie man das aus dem Hotel kennt, sondern um 07:15 Uhr. Um 12:15 Uhr ist Mittagessen, um 18:15 Uhr Abendessen. Wenn Jemand zu einer Mahlzeit nicht erscheint, wird die Klinikleitung informiert, die sofort eine Suchaktion in die Wege leitet. Am Sonntag ist das Frühstück nur unwesentlich später angesetzt, nämlich um 07:30 Uhr. Der orientierungslose Patient benötigt angeblich eine klare, regelmäßige Tagesstruktur, damit die Reha ihre Wirkung entfalten kann. Am Wochenende kann man sich auf einer Liste von einzelnen Mahlzeiten befreien lassen. Ich streiche sofort das Frühstück am Wochenende. Diese Struktursingularität wird meinen Tagesablauf belasten, das leuchtet mir ein, aber ich bin optimistisch, dass ich damit klar kommen werde.

Die Sitzordnung im Speisesaal wird vom Küchenpersonal festgelegt und mit gedruckten Namensschildchen auf durchnumerierten Tischen dokumentiert. Mit mir an Tisch 14 sitzen die Protagonisten für zahlreiche spannende Tischgespräche, die ich in den nächsten Wochen erleben darf:

Horst: 59 Jahre, promovierter Physiker, der seit 30 Jahren nicht mehr gearbeitet hat, weil er am Aspergersyndrom leidet. Er drückt sich immer fehlerfrei in Hochdeutsch aus, hat den obersten Knopf seines karierten Hemdes (Singular, denn er trägt immer das gleiche Hemd) stets geschlossen und trägt den Seitenscheitel immer korrekt nach rechts über seine Halbglatze gekämmt.

Pokerface: 51 Jahre, Beamter aus Franken, der autistische Züge aufweist und unter depressiver Stimmung leidet, kaum spricht und nur selten den Blick vom Teller hebt. Seine Mimik ist meist starr und undurchdringlich, ein echtes Pokerface eben. Gefühle zeigt er eher nicht.

Infra: Eine gläubige Muslimin unbestimmbaren Alters, die noch nie gearbeitet hat und nur deshalb hier ist, weil das Arbeitsamt ihr andernfalls die Streichung von Hartz4 angedroht hat. Sie hat nach eigener Aussage überhaupt keine Probleme (Null komma nix!) und weiß nicht, was sie hier in der Klinik soll. Allerdings wird schnell klar, dass sie zumindest eine massive Essstörung und die eine oder andere Verhaltensauffälligkeit hat. Infra wird sie genannt, weil sie ihr Gesicht regelmäßig mit Essensresten einschmiert dass es glänzt wie auf einem Infrarot-Wärmebild.

Tischgespräche (1) – Das erste Abendessen

Pokerface nagt an einem Vollkornbrot. Infra erobert das Buffet und walzt ihre Gegner in Grund und Boden. Schlange stehen ist nicht ihr Ding. Horst kommt als letzter an den Tisch.

Horst: „Einen wunderschönen Abend und ein herzliches Willkommen in der Irrenanstalt!“

Pokerface (ohne den Blick vom Teller zu heben): „Abend.“

Ich: „Hallo.“

Infra (kommt mit zwei randvollen Tellern vom Buffet zurück): „Müsst ihr schnell mache, bevor die alles wegesse, da hinte gibt Hähnchenbrust.“

Horst: „Wenn Hühner Säugetiere wären, würden wir jetzt Hähnchentitten essen.“

Pokerface: „-“

Ich: „?!“

Infra (mit vollem Mund): „Häh?“

Horst (steht auf und geht zum Buffet): „Na, dann werde ich mal schauen, was die Anstaltsküche uns heute für Leckereien kredenzt.“

Pokerface: „-“

Ich: „-“

Infra (kippt die Brokkolicremesuppe über den Teller mit Kartoffelgratin und Hähnchenbrust, drückt zwei Scheiben Toastbrot in die grüne Masse und schiebt sich mit den Händen die Pampe in den Mund): „Da musch du disch echt beeile, sonst fresse die alles weg. Wie die Tiere sind die.“

Ich: „Kann ich mal bitte die Teekanne haben?“

Horst: „Diesen Krankenhaustee würde ich an deiner Stelle nicht trinken.“

Pokerface (schaut mich vielsagend an und senkt dann seinen Blick wieder auf den Teller): „-“

Infra: „-“

Ich (gieße mir von dem roten Früchtetee in meine Tasse): „Warum nicht?“

Horst (zeigt auf eine Dame vom Küchenpersonal): „Der Tee schmeckt, als hätten die Küchenschaben ihre benutzten Tampons darin ausgekocht.“

Ich: „Uaaah!!!???“

Pokerface (mit leicht zuckendem Mundwinkel): „-“

Infra (kaut schmatzend): „Häh? Brauchsch du Tampons? Ich kann dir welche geben.“

Horst: „Ich brauche natürlich keine Tampons. Ich kann ja gar keine Menstruation bekommen. Als Mann geht das ja nicht. Bei dir ist das etwas anderes. Du kannst eine Menstruation bekommen. Du bist ja eine Frau.“

Ich (lasse den Tee stehen und schenke mir ein Wasser ein): „Können wir vielleicht das Thema wechseln?“

Pokerface (blickt starr auf seinen Teller, jetzt mit beiden Mundwinkeln zuckend): „-“

Infra: „Hab ich im Fernsehen gesehen, dass die ganze Regierunge sind von Reptilien beherrscht. Merkel, Putin, der Trump, des sind alles Reptilien, die wo aus dem Weltall kommen und die ham die Gestalt von Menschen angenommen.“

Pokerface: „-“

Ich: „???“

Horst: „Also, das halte ich für extrem unwahrscheinlich. Reptilien haben ein viel zu kleines Gehirn, als dass sie die Technologie für Weltraumreisen beherrschen könnten.“

Infra: „Doch, die ham des im Fernsehen gezeigt. Und damit die Mensche nix merken, tun die so Medikamente ins Trinkwasser. Die machen einen so schläfrig und schwummerig. Ich bin oft schwummerig im Kopf.“

Pokerface (Abgang): „Schönen Abend noch.“

Horst (Abgang): „Tschüssikowski.“

Ich (Abgang): „Ich wünsch euch was.“

Infra: „Jetzt geht ihr alle? Ihr könnt des bloß nicht ertragen, dass ich so viel esse kann. Ihr müsst auch mehr esse!“

22 Kommentare zu „Die Klinik“

      1. Auch Lehrer sind nur Menschen. Gerade in Deutsch braucht man den, dem der Stil zu schreiben gefällt. Ich hatte jahrelang eine Deutschlehrerin, die meinen Stil liebte und dann kam so einer im Trachtenanzug, da war ich ganz schnell von 1 auf 4…😉

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  1. Hi Marco,
    sehr lustige Geschichte, ich hatte viel Spaß beim Lesen.
    Schön, dass Du in dieser Klinik auch irgendwie Deinen Spaß hattest.
    Liebe Grüße,
    Petra

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  2. So, eben habe ich deine Geschichte fertig gelesen. Die beste therapeutische Maßnahme, da belustigend (lachen ist gesund…) und abschreckend zugleich. Da überlegt man sich das zweimal mit dem Burnout… 😉

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  3. Ich kenne derlei Kliniken durchaus auch von innen. Wobei mir eingangs auffiel: Reha(bilitation)sklinik zur (Irgendwas, hier Burnout)Prophylaxe? Da hat sich ein gewisser Widerspruch eingeschlichen. Absicht des Autors oder Fehler der Rentenversicherungsträger?
    Und ja, man erlebt allerlei. Mit Patienten, mit Personal, mit dem bekannten Alltagsgespenst, das sich strikt nach Herrn Murphys Gesetzgebung ausrichtet, dabei aber oft eine schräge Art von Humor entwickelt. In dem Fall schon das verfallende Gemäuer nebenan. Das Stöhnen im Keller wird ja vermutlich von einst dort vergessenen Patienten kommen. Aber inzwischen werden die sich ja dran gewöhnt haben, besser nicht nachschauen.
    In „Als ich in jenem Dorfe lebte“ (Warnung vorangestellt, das ist sehr lang) darf der Arzt irgendwelche Chakren suchen. Bei mir war das anders. Die lernte ich in einer solchen Klinik kennen und benannte der, freilich in ganz anderem Ambiente, ausübenden altindischer Körperweisheiten meine diesbezüglichen, schulmedizisch – nüchtern -europäischen BEdenken. Es wurde dann noch ganz lustig, genauso mit dem Nadelmann, der unbedingt meinte, er müsse mir irgendwelche Piekser versetzen und mich aussehen lassen wie eine weitere Figur in so einem amerikansichen Horrorfilm.

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    1. Dann kannst du meine Erlebnisse ja gut einordnen, wenn du auch die andere Seite kennst 😁. Das Fachpersonal war jedenfalls ganz begeistert von meinem Bericht. Der vermeintliche Widerspruch mit der Prophylaxe in einer Reha-Klinik war übrigens kein Fehler sondern eine Innovation. Sich helfen lassen, bevor es einen völlig umhaut, ist sehr sinnvoll.

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      1. Absolut sinnvoll! Bloß müßte man die Kliniken umbenennen. Prophylaxe hat in unserer Welt ohnehin zu wenig Stellenwert, egal ob Klimawandel, Abrüstung (ich weiß, das ist derzeit ein bäh-Wort), Umweltschutz, Gesundheit… Wie wär’s mit Prophylaxitionsklinikum? Prophylaxation klingt noch blöder, Noch mal nachdenken…

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  4. Neue Erfahrung, wenn auch diesmal nicht die Eigene: Wer krank wird, wird aus der RehaKLINIK rausgeschmissen. Schon so ein kleiner, allgemein bekannter (außer bei denen, die ihm grundsätzlich die Existenz absprechen und auch sonst meist in einer selbst zusammengezimmerten Welt leben) Virus genügt… Womit begründen die eigentlich den Begriff Klinikum?

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  5. Ahh, ich habe Volleyball immer gehasst und musste bei deiner Spielbeschreibung so lachen, dass mein Mann sich schon anfing, Sorgen zu machen. Dann wollte ich ihm das vorlesen, ging nicht, weil ich so lachen musste. Solltest du irgendwann ein Buch rausgeben, sag Bescheid. Ich kauf‘s.

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    1. Oh danke, danke. Wenn ich deine Lachmuskeln ein wenig trainieren konnte, dann hat sich das Schreiben gelohnt. Ein Buch hab ich bisher nicht geplant, aber es gibt auf meinem Blog ja noch jede Menge andere Geschichten.

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