Die Klinik

Einzelgespräch (1)

Im Einzelgespräch geht es 1:1 in den seelischen Nahkampf, Mann gegen Therapeut, ohne Helm und ohne Rüstung, alleine in der Arena ohne Publikum und ohne Sanitäter. Ich erkenne in der ersten Sekunde, dass meine Therapeutin natürlich viel zu jung ist, um mir auch nur ansatzweise einen Tipp geben zu können. Diese Einschätzung muss ich allerdings rasch revidieren, denn schon nach wenigen Minuten liegt meine Seele nackt und schutzlos auf ihrem Seziertisch ausgebreitet. Und dann löst sie mit ihrem Fragen-Skalpell Schicht für Schicht die Zwiebelschalen von meinen Problemen, bis der wahre Kern zum Vorschein kommt.

Schnell stellt sich heraus, dass meine innere Anspannung auf einen Mangel an Linzertorte in meiner frühen Kindheit zurück zu führen ist. Aus dieser ungestillten Sehnsucht heraus rutschte ich im Lauf der Jahre in eine Nutellasucht, aber das ist eine andere Geschichte. Nutella gehört zu der besonders gefährlichen Kategorie der gesellschaftlich tolerierten stofflichen Suchtmittel, die keine körperliche Abhängigkeit erzeugen, von denen man aber trotzdem kaum wieder los kommt, wenn man ihnen einmal verfallen ist. Außerdem entwickelte ich eine ungesunde Leistungsorientierung und einen unerfüllbaren Anspruch an mich selbst. Das ganze Problem manifestiert sich dann beispielsweise in einem übertriebenen Drang zur Pünktlichkeit. Ich will mir sozusagen die imaginäre Linzertorte verdienen, indem ich möglichst genau pünktlich komme. Da das im beruflichen Alltag nicht immer möglich ist, gerate ich in den schmerzhaften Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und schon beginnt der Teufelskreis aus immer schnellerem Strampeln ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg.

Mein erster therapeutischer Auftrag lautet folgerichtig, mit Absicht eine Viertelstunde zu spät zum Chefarztvortrag zu kommen und dabei auf meine Gefühle zu achten. Ich laufe also pünktlich auf die Sekunde genau eine Viertelstunde zu spät im berstend vollen Plenarsaal ein, wo mich der Oberpsychiater zur Belohnung gleich nach vorne winkt. Irgendwelche Gefühle entdecke ich keine, denn ich war ja in offiziellem Auftrag verspätet unterwegs.

Der Vortrag dreht sich um Persönlichkeitsstile und ihre typischen Probleme. Der Korrekte reibt sich bis zur Erschöpfung auf, weil er alles richtig und termingerecht erledigen will. Der Sensible nimmt alles Leid der Welt auf seine Schultern. Der Kumpeltyp kann nicht nein sagen, der Entertainer will immer im Mittelpunkt stehen, der Hysterische produziert im Akkord aus Mücken Elefanten, der Abenteurer verzweifelt an Routine und der Narzist kennt nur sich selbst. Ich mache mir schon Sorgen, weil ich mich in mindestens fünf Typen wieder erkenne, aber meine Therapeutin beruhigt mich. Sie nennt mich facettenreich – das ist der kleine Bruder der multiplen Persönlichkeitsstörung. Und sie rät mir, manchmal mehr Kante zu zeigen und nicht immer nur zu funktionieren.

Beobachtungen (1)

Auf die harmlose Frage „Hallo, wie geht’s?“ gibt es verschiedene Antwort-Typologien:

a) die Verleugner antworten mit „Gut!“, „Super!“ oder „Bestens!“, obwohl selbst ich ihnen ansehe, dass es ihnen dreckig geht. Und das will etwas heißen!

b) die Energieräuber drücken mir ein halbstündiges Gespräch über die Ungerechtigkeiten der Welt rein, von dem ich mich nur mit Hilfe einer Ration Nutella erholen kann.

c) die tickenden Zeitbomben laufen spätestens nach fünf Sekunden weinend davon.

d) Die Tretminen berichten mir von einem derart grauenhaften Erlebnis, dass ich selber weinend davon laufen möchte.

Ich streiche diese Frage für die nächsten fünf Wochen aus meinem Wortschatz. Wenn ich selbst gefragt werde, wie es mir gehe, zeige ich Kante und verweigere jeden Kommentar.

Tischgespräche (2) – Das erste Frühstück

Am nächsten Morgen steht Blutabnehmen auf meinem Stundenplan. Das ist ja meine meist gehasste Lieblingsbeschäftigung. Ich habe schon die ganze Nacht überlegt, wie ich da dran vorbei komme. Aber schlußendlich habe ich entschieden, dass es vielleicht keine gute Idee ist, meine Spritzenphobie ausgerechnet hier zur Sprache zu bringen, wo es von Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten nur so wimmelt. Wer weiß, was die mir für eine Therapie verordnen würden. Im Einführungsvortrag hatte der Oberpsychiater davon gesprochen, dass man Angststörungen durch Konfrontation mit dem Angstauslöser heilen würde. Das macht mir erst richtig Angst. Also ertrage ich mit zusammen gebissenen Zähnen mein Schicksal und lasse den jungen Assistenten sein blutiges Geschäft verrichten. Zu meiner Überraschung überlebe ich die Prozedur auch dieses Mal wieder und schleppe mich zum Frühstück.

Horst: „Guten Morgen meine Damen und Herren, hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.“

Pokerface: „Morgen.“

Ich: „Mogn.“

Infra (schaut kritisch in meine Richtung): „Was isch mit dir, du bisch ja ganz blass? Hasch du von dem Trinkwasser getrunken? Ich hab euch doch gesagt, dass die da was rein tun.“

Ich: „Ich war eben beim Blutabnehmen. Ich hasse Blutabnehmen!“

Horst: „War wenigstens das Karbolmäuschen hübsch?“

Pokerface: „-“

Infra: „Hä?“

Ich (hole tief Luft. Ich will diesen Mist nicht fünf Wochen lang hören und entscheide mich nach kurzer Überlegung für eine Ich-Botschaft mit eingebauter Brücke): „Sag mal Horst, auf mich wirken deine Äußerungen etwas frauenfeindlich, aber das meinst du ja sicher nicht so, oder?“

Pokerface (mit hochgezogenen Augenbrauen): „!!!“

Infra (kaut schmatzend): „-“

Horst: „Wieso denn frauenfeindlich? Der Begriff kommt eben daher, weil die früher mit Karbol gearbeitet haben. Das ist eine Bezeichnung aus dem 19. Jahrhundert für Phenol, das damals hoch verdünnt zur Wundbehandlung eingesetzt wurde.“

Ich: „Es geht doch nicht um das Karbol, sondern um das Mäuschen und darum, dass du gefragt hast, ob die hübsch war.“

Pokerface: „-“

Infra (kippt sich zwei Schälchen Honig, zwei Päckchen Butter und zwei halbierte Tomaten auf ein Käsebrötchen und zerquetscht das Ganze): „Mhm. Lecker. Müsst ihr probiere!“

Horst: „Was ist denn daran frauenfeindlich? Das ist doch ein Kompliment, wenn man einer Frau unterstellt, dass sie hübsch sein könnte. Ein kleines Scherzchen wird doch mal erlaubt sein.“

Ich: „Also ich finde das nicht witzig und ich hab auch keine Lust, mir fünf Wochen lang bei jedem Essen sexistische Sprüche anzuhören.“

Pokerface: „-“

Infra: „-“

Horst: „Mein Stammtisch in Halle findet meine Äußerungen immer ganz witzig. Das findet doch jeder lustig, außer man ist völlig humorbefreit. Frauen stehen auf humorvolle Männer, außer die Emanzen bei den Grünen, die gehen zum Lachen in den Keller. Aber bei denen kriegt ja eh kein Mann einen hoch. Da muss man sich ja nur die Claudia Roth anschauen, dann weiß man Bescheid.“

Ich: „Siehste, das meine ich mit sexistisch. Aber du kannst ja nach dem Essen einfach mal rüber in die medizinische Ambulanz gehen und die Damen fragen, ob sie das als Kompliment auffassen, was du hier von dir gibst.“

Pokerface: „-“

Infra: „-“

Horst: „-“

Ich: „Das Karbolmäuschen war übrigens ein junger Mann.“

Horst: „Na das war dann halt Pech.“

Pokerface: „-“

Infra: „ Haben wir jetzt Streit am Tisch? Holt euch doch noch was zum esse!“

22 Kommentare zu „Die Klinik“

      1. Auch Lehrer sind nur Menschen. Gerade in Deutsch braucht man den, dem der Stil zu schreiben gefällt. Ich hatte jahrelang eine Deutschlehrerin, die meinen Stil liebte und dann kam so einer im Trachtenanzug, da war ich ganz schnell von 1 auf 4…😉

        Gefällt 1 Person

  1. Hi Marco,
    sehr lustige Geschichte, ich hatte viel Spaß beim Lesen.
    Schön, dass Du in dieser Klinik auch irgendwie Deinen Spaß hattest.
    Liebe Grüße,
    Petra

    Gefällt 1 Person

  2. So, eben habe ich deine Geschichte fertig gelesen. Die beste therapeutische Maßnahme, da belustigend (lachen ist gesund…) und abschreckend zugleich. Da überlegt man sich das zweimal mit dem Burnout… 😉

    Gefällt 1 Person

  3. Ich kenne derlei Kliniken durchaus auch von innen. Wobei mir eingangs auffiel: Reha(bilitation)sklinik zur (Irgendwas, hier Burnout)Prophylaxe? Da hat sich ein gewisser Widerspruch eingeschlichen. Absicht des Autors oder Fehler der Rentenversicherungsträger?
    Und ja, man erlebt allerlei. Mit Patienten, mit Personal, mit dem bekannten Alltagsgespenst, das sich strikt nach Herrn Murphys Gesetzgebung ausrichtet, dabei aber oft eine schräge Art von Humor entwickelt. In dem Fall schon das verfallende Gemäuer nebenan. Das Stöhnen im Keller wird ja vermutlich von einst dort vergessenen Patienten kommen. Aber inzwischen werden die sich ja dran gewöhnt haben, besser nicht nachschauen.
    In „Als ich in jenem Dorfe lebte“ (Warnung vorangestellt, das ist sehr lang) darf der Arzt irgendwelche Chakren suchen. Bei mir war das anders. Die lernte ich in einer solchen Klinik kennen und benannte der, freilich in ganz anderem Ambiente, ausübenden altindischer Körperweisheiten meine diesbezüglichen, schulmedizisch – nüchtern -europäischen BEdenken. Es wurde dann noch ganz lustig, genauso mit dem Nadelmann, der unbedingt meinte, er müsse mir irgendwelche Piekser versetzen und mich aussehen lassen wie eine weitere Figur in so einem amerikansichen Horrorfilm.

    Gefällt 1 Person

    1. Dann kannst du meine Erlebnisse ja gut einordnen, wenn du auch die andere Seite kennst 😁. Das Fachpersonal war jedenfalls ganz begeistert von meinem Bericht. Der vermeintliche Widerspruch mit der Prophylaxe in einer Reha-Klinik war übrigens kein Fehler sondern eine Innovation. Sich helfen lassen, bevor es einen völlig umhaut, ist sehr sinnvoll.

      Like

      1. Absolut sinnvoll! Bloß müßte man die Kliniken umbenennen. Prophylaxe hat in unserer Welt ohnehin zu wenig Stellenwert, egal ob Klimawandel, Abrüstung (ich weiß, das ist derzeit ein bäh-Wort), Umweltschutz, Gesundheit… Wie wär’s mit Prophylaxitionsklinikum? Prophylaxation klingt noch blöder, Noch mal nachdenken…

        Gefällt 1 Person

  4. Neue Erfahrung, wenn auch diesmal nicht die Eigene: Wer krank wird, wird aus der RehaKLINIK rausgeschmissen. Schon so ein kleiner, allgemein bekannter (außer bei denen, die ihm grundsätzlich die Existenz absprechen und auch sonst meist in einer selbst zusammengezimmerten Welt leben) Virus genügt… Womit begründen die eigentlich den Begriff Klinikum?

    Gefällt 1 Person

  5. Ahh, ich habe Volleyball immer gehasst und musste bei deiner Spielbeschreibung so lachen, dass mein Mann sich schon anfing, Sorgen zu machen. Dann wollte ich ihm das vorlesen, ging nicht, weil ich so lachen musste. Solltest du irgendwann ein Buch rausgeben, sag Bescheid. Ich kauf‘s.

    Gefällt 1 Person

    1. Oh danke, danke. Wenn ich deine Lachmuskeln ein wenig trainieren konnte, dann hat sich das Schreiben gelohnt. Ein Buch hab ich bisher nicht geplant, aber es gibt auf meinem Blog ja noch jede Menge andere Geschichten.

      Like

Hinterlasse einen Kommentar