Die Klinik

Genussgruppe

In der Genussgruppe sollen wir (wieder) lernen, uns selbst das Genießen zu erlauben. Wir werden gefragt, was für einen Genuss wir uns denn ganz arg wünschen würden. Ich denke kurz an Sex, verwerfe diesen Gedanken aber nach einem kurzen Blick in die Runde. Dann benenne ich spontan meinen unerfüllten Lebenswunsch: „Ich wollte schon immer einen See aus Nutella ganz für mich alleine haben.“

Kurz darauf schwimme ich in einem Tretboot auf einem Nutellasee. Es ist der Bodensee, das ist eindeutig am Säntis aus Toblerone zu erkennen, der am gegenüberliegenden Schweizer Ufer thront. Ich frage mich kurz, wie groß wohl das Budget der Klinik sein mag, dass sie so tolle Angebote machen können, aber ich halte mich nicht länger mit solchen Kleinigkeiten auf und versuche zu genießen.

Am Ufer erkenne ich plötzlich meine Mutter, die mit einer selbst gebackenen Linzertorte auf mich wartet, meinem Lieblingsgebäck. Seit vielen Jahren bäckt sie diese Torte für alle möglichen Leute zum Geburtstag, nur nicht für mich. Ich trete in die Pedale, aber kurz bevor ich das Ufer erreiche, taucht mein Bruder auf und meine Mutter überreicht ihm die Torte.

Aus dem Off ertönt eine Stimme, die meiner Bezugstherapeutin verdächtig ähnelt: „Da können Sie strampeln so viel sie wollen, das wird sich niemals ändern. Sie haben es selbst in der Hand, wie Sie mit der Situation umgehen.“

Ich höre auf zu treten und lasse mich von der Strömung abtreiben. Als mein Tretboot im Rheinfall zerschellt, schrecke ich schweißgebadet aus meinem Tagtraum auf. Ich habe schon wieder Herzrasen.

Nach der Genussgruppe gehe ich in die Cafeteria und kaufe mir ein Stück Linzertorte. „Ihr könnt euch eure Tortenkrümel sonst wohin schmieren“, denke ich mir. Seitdem bekomme ich nie wieder Herzrasen.

Chi Gong

Mit sanften Bewegungen wird im Chi Gong der Energiefluss über die Meridiane angeregt. Meine Meridiane sind noch von der Linzertorte verstopft, aber ich genieße trotzdem die ruhige Musik und die sanften Bewegungen. Wir üben das stille Chi Gong, bei dem im Stehen alle Muskeln entspannt sind, ausgenommen diejenigen, die man braucht, um nicht auf die Fresse zu fallen. Diese Übung ist das komplette Gegenteil meines Zustands – bei mir sind fortwährend alle Muskeln angespannt. Mal sehen, was sich am Ende durchsetzt.

Dann üben wir einige Positionen: das Herz, den schreitenden Kranich und den fliegenden Kranich. Alle sind tief versunken in ihr innerstes Selbst und spüren den Energieströmen nach. Leise Musik mit sphärischen Klängen erzeugt eine Atmosphäre absoluter Ruhe und Entspannung. Plötzlich knallt die Eingangstür der Turnhalle gegen die Wand und herein wälzt sich Infra, meine geschätzte ehemalige Tischnachbarin.

„Schulligung, ich hab den Raum nicht gefunden!“, ruft sie in die meditative Stille. Mehrere Kraniche stürzen unsanft ab.

„Huhu!“, winkt Infra mir zu. „Bisch du auch hier?“

Ja, bin ich.

Beobachtungen (6)

Die Cafeteria hat den Charme eines Wartesaals im Bahnhof einer verlassenen Kleinstadt. Weiß geflieste Böden, kaltes flackerndes Neonlicht, harte Stühle und zugige Türen vernichten zuverlässig jeden Gedanken an Gemütlichkeit. Feng Shui im Minusbereich. Dass trotzdem etliche Personen ihre freie Zeit in der Cafeteria verbringen, liegt daran, dass hier einer der wenigen Orte mit WLAN-Empfang ist. Zumindest gelegentlich und an manchen Tischen. Hier versuchen die Digital-Junkies verzweifelt ins Netz zu gelangen, was mitunter viel Geduld erfordert. Ab und zu erschallt dann der überrascht-freudige Ausruf „Ich bin drin!“, worauf alle zu dem Glückspilz stürzen und voller Neid das Wunder bestaunen. Das Ganze erinnert an die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts, als die Deutsche Telekom in den Anfängen des Internetzeitalters mit genau diesem Spruch für ihren Internetzugang warb.

Einzelgespräch (2)

Heute schlägt der Gong für die zweite Runde im Einzeltermin mit meiner Zwiebelschalen-Bezugstherapeutin. Wie es mir denn so gehe, eröffnet sie das Gespräch.

„Gut, alles bestens“, fasse ich meine Stimmungslage knapp zusammen.

„Aber?“, fragt sie ganz harmlos. Nur ein Wort, aber das hat es in sich.

„Kein Aber“, wehre ich mich tapfer. „Ich bin nur etwas angespannt, weil ich heute morgen erfahren habe, dass mein Sohn sein Staatsexamen versemmelt hat.“

„Aha! Und was haben Sie dabei gefühlt?“ Jetzt geht es schon wieder los mit Gefühlen.

„Keine Gefühle“, stelle ich klar. ,,Ich könnte nur im Strahl kotzen.“

Nach einer Viertelstunde liegt eine ganze Reihe von Gefühlen auf dem Seziertisch. Mitgefühl für den armen Burschen, der ja selber am meisten darunter leidet, Sorge, wie der Junge das wegsteckt, ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn vielleicht nicht gut genug auf das Leben vorbereitet habe. Ein bisschen Ärger, weil der Herr Student monatelang gechillt war und nun ein Jahr länger für sein Studium braucht, und noch ein paar andere.

Wir beschließen, zuerst einmal den Ärger anzugehen. Was ich denn brauche, um mich besser zu fühlen, werde ich gefragt.

„Haben Sie eine Axt?“ will ich wissen.

„Leider nein, aus naheliegenden Gründen gehören Äxte nicht zur therapeutischen Grundausrüstung“, erfahre ich.

Meine Therapeutin ermuntert mich, eine Art Urschrei-Therapie in Eigenregie zu probieren. Also mache ich mich auf den Weg in den nahen Wald. Abseits des Weges finde ich eine kleine Lichtung, auf der ich mein Vorhaben durchführen kann. Zuerst fällt es mir schwer, meinen Gefühlen ihren Lauf zu lassen, aber je länger es geht, desto mehr gerate ich in Rage. Beim fünften Versuch kommt auch so etwas wie ein Schrei über meine Lippen, eigentlich ist es eher ein wütendes Grunzen. Über eine Viertelstunde lang tobe ich wie ein Berserker im Wald – das Ergebnis kann sich sehen lassen, mehrere Bäume fallen mir zum Opfer. Nun verstehe ich auch, warum es keine Therapieaxt gibt – Der Schaden ist auch so schon beträchtlich.

Nach der Therapie

Nachdem ich mich durch das dichte Unterholz wieder zurück auf den Waldweg gekämpft habe, wische ich mir die Spinnweben aus dem Haar und schüttle die Reste des Laubs ab. Dann erstarre ich. Mir steht eine Nordic-Walking-Gruppe aus der Nachbarklinik gegenüber. Zwanzig Stöcke sind mit der Spitze auf mich gerichtet, die Gesichter drücken Entschlossenheit und eine gewisse Aggressivität aus. Dann sagt der Leiter der Gruppe: „Sie können die Stöcke wieder runter nehmen. Es war doch keine Wildschweinrotte, sondern nur ein Patient aus unserer geschätzten Nachbarklinik. Aber der Unterschied ist manchmal auch recht klein.“

Auf dem Heimweg ruhe ich mich auf einem Bänkchen in der Sonne aus und reflektiere meine neu gewonnenen Einsichten. Eine ältere Frau fragt mich freundlich, ob sie sich zu mir setzen darf. Reflexartig beginne ich zu lächeln, und will schon zustimmen. Aber dann fällt mir ein, dass ich mehr Kante zeigen soll.

„Nein, besetzt!“, knurre ich in ihre Richtung. „Und ich bin gar nicht nett!“

Die Frau schaut etwas irritiert, dann setzt sie sich auf eine andere Bank. Läuft.

Beobachtungen (7)

Ich glaube, ich muss bald Socken kaufen. Waschen ist keine Option, denn der Waschraum liegt im Revier von Oberschwester Ratched im Keller. Dort, wo die Neonröhren nachts so unruhig flackern und es in den Heizungsrohren diese komischen schabenden Geräusche gibt.

22 Kommentare zu „Die Klinik“

      1. Auch Lehrer sind nur Menschen. Gerade in Deutsch braucht man den, dem der Stil zu schreiben gefällt. Ich hatte jahrelang eine Deutschlehrerin, die meinen Stil liebte und dann kam so einer im Trachtenanzug, da war ich ganz schnell von 1 auf 4…😉

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  1. Hi Marco,
    sehr lustige Geschichte, ich hatte viel Spaß beim Lesen.
    Schön, dass Du in dieser Klinik auch irgendwie Deinen Spaß hattest.
    Liebe Grüße,
    Petra

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  2. So, eben habe ich deine Geschichte fertig gelesen. Die beste therapeutische Maßnahme, da belustigend (lachen ist gesund…) und abschreckend zugleich. Da überlegt man sich das zweimal mit dem Burnout… 😉

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  3. Ich kenne derlei Kliniken durchaus auch von innen. Wobei mir eingangs auffiel: Reha(bilitation)sklinik zur (Irgendwas, hier Burnout)Prophylaxe? Da hat sich ein gewisser Widerspruch eingeschlichen. Absicht des Autors oder Fehler der Rentenversicherungsträger?
    Und ja, man erlebt allerlei. Mit Patienten, mit Personal, mit dem bekannten Alltagsgespenst, das sich strikt nach Herrn Murphys Gesetzgebung ausrichtet, dabei aber oft eine schräge Art von Humor entwickelt. In dem Fall schon das verfallende Gemäuer nebenan. Das Stöhnen im Keller wird ja vermutlich von einst dort vergessenen Patienten kommen. Aber inzwischen werden die sich ja dran gewöhnt haben, besser nicht nachschauen.
    In „Als ich in jenem Dorfe lebte“ (Warnung vorangestellt, das ist sehr lang) darf der Arzt irgendwelche Chakren suchen. Bei mir war das anders. Die lernte ich in einer solchen Klinik kennen und benannte der, freilich in ganz anderem Ambiente, ausübenden altindischer Körperweisheiten meine diesbezüglichen, schulmedizisch – nüchtern -europäischen BEdenken. Es wurde dann noch ganz lustig, genauso mit dem Nadelmann, der unbedingt meinte, er müsse mir irgendwelche Piekser versetzen und mich aussehen lassen wie eine weitere Figur in so einem amerikansichen Horrorfilm.

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    1. Dann kannst du meine Erlebnisse ja gut einordnen, wenn du auch die andere Seite kennst 😁. Das Fachpersonal war jedenfalls ganz begeistert von meinem Bericht. Der vermeintliche Widerspruch mit der Prophylaxe in einer Reha-Klinik war übrigens kein Fehler sondern eine Innovation. Sich helfen lassen, bevor es einen völlig umhaut, ist sehr sinnvoll.

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      1. Absolut sinnvoll! Bloß müßte man die Kliniken umbenennen. Prophylaxe hat in unserer Welt ohnehin zu wenig Stellenwert, egal ob Klimawandel, Abrüstung (ich weiß, das ist derzeit ein bäh-Wort), Umweltschutz, Gesundheit… Wie wär’s mit Prophylaxitionsklinikum? Prophylaxation klingt noch blöder, Noch mal nachdenken…

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  4. Neue Erfahrung, wenn auch diesmal nicht die Eigene: Wer krank wird, wird aus der RehaKLINIK rausgeschmissen. Schon so ein kleiner, allgemein bekannter (außer bei denen, die ihm grundsätzlich die Existenz absprechen und auch sonst meist in einer selbst zusammengezimmerten Welt leben) Virus genügt… Womit begründen die eigentlich den Begriff Klinikum?

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  5. Ahh, ich habe Volleyball immer gehasst und musste bei deiner Spielbeschreibung so lachen, dass mein Mann sich schon anfing, Sorgen zu machen. Dann wollte ich ihm das vorlesen, ging nicht, weil ich so lachen musste. Solltest du irgendwann ein Buch rausgeben, sag Bescheid. Ich kauf‘s.

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    1. Oh danke, danke. Wenn ich deine Lachmuskeln ein wenig trainieren konnte, dann hat sich das Schreiben gelohnt. Ein Buch hab ich bisher nicht geplant, aber es gibt auf meinem Blog ja noch jede Menge andere Geschichten.

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