Nutella

Für Alle, die den Unterschied zwischen NussNougat und Nutella kennen

stand mit nutella

Eigentlich glaube ich nicht an Schicksal.

Eigentlich.

Allerdings kann es manchmal auch kein Zufall sein.

Zum Beispiel neulich. Ich gehe normalerweise immer in den gleichen Laden zum Einkaufen. Aber an diesem Tag bin ich (zufällig?) zur Konkurrenz gegenüber gefahren, weil dort das Nutella im Sonderangebot war. Das 800-Gramm-Glas für 2,99 €. Wer kann da schon widerstehen? Richtig. Niemand!

Ich schaue auch normalerweise niemals auf das schwarze Brett, das in diesen Kaufhäusern mit gebrauchten Kinderwägen und hoffnungslosen Wohnungssuchen voll gepflastert ist. Aber an diesem Tag fiel mein Blick (zufällig?) auf das schwarze Brett.

Und da hing dann (zufällig?) dieser Zettel:

Das waren für meinen Geschmack ein bisschen viele Zufälle. Also ist es vielleicht manchmal doch Schicksal. Dieser Zettel ließ mir jedenfalls keine Ruhe mehr. Natürlich ist ein Leben ohne Nutella vorstellbar. Aber nicht sinnvoll. Neugierig geworden beschloss ich, zu einem dieser Treffen bei Anna zu gehen. Vielleicht konnte man da tolle Rezepte mit Nutella erfahren oder Tipps bekommen, wo es aktuelle Sonderangebote gab. In meinem Kopf formte sich das Bild einer Siebzigjährigen rundlichen Anna, die mit Schürze in der Küche stand und köstliche Schokoladenkuchen, Nutella-Brownies und Nuss-Nougat-Desserts aus dem Backofen zauberte.

Ich war ein bisschen spät dran und als ich am Donnerstag das Nebenzimmer im Vereinsheim des FC betrat, saßen schon mehrere Teilnehmer in einem Stuhlkreis. Ein bärtiger Mann mit kräftiger Statur begrüßte mich.

„Herzlich willkommen, setz dich doch zu uns“, zeigte er auf einen freien Stuhl neben sich. „Ich heiße Jürgen. Magst du uns sagen, wie wir dich nennen sollen?“

„Ähm, klar, also ich bin Marc O., hallo zusammen“, nickte ich in die Runde.

„Hallo Marc O“, murmelte die Gruppe im vielstimmigen Chor zurück. „Willkommen in unserer Mitte“.

Jürgen schien so eine Art Anführer zu sein. Er ergriff wieder das Wort.

„Entspann dich einfach und höre erstmal zu. Einige von uns brauchen sehr lange bis sie sich öffnen, Andere sind eher bereit ihre Erfahrungen zu teilen. Manche können sich nie überwinden, aber auch das ist völlig ok. Man kann auch Kraft daraus schöpfen, dass man nicht allein ist.“

Mir kam das etwas geschwollen vor für einen Nutella-Fanclub, aber was soll‘s, dachte ich und setzte mich. Ich suchte den Raum unauffällig nach dem Nutellagebäck ab, konnte aber nichts finden. Ich war ein bisschen enttäuscht, aber vielleicht wurden die süßen Häppchen erst zur Pause gereicht.

„Bevor wir beginnen, möchte ich nochmal an unsere Regeln erinnern“, begann Jürgen. „Die wichtigste Regel besagt, dass alles was in diesem Raum passiert oder gesprochen wird, in diesem Raum bleibt“, meinte er in meine Richtung.

„Geht klar“, gab ich mein Einverständnis. Dieses Prinzip war mir von einer USA-Reise vertraut. „What happens in Vegas, stays in Las Vegas“, lautete das Motto dort. Ich hatte eh nicht vor, die Nutellarezepte weiter zu geben.

„Die zweite Regel beschreibt das Prinzip der Selbstfürsorge. Jeder ist für sein eigenes Wohlbefinden selbst verantwortlich. Wem es warm wird, der kann das Fenster öffnen, wer aufstehen will, soll das tun.“ Ich nickte. Und wer Hunger hat, bekommt hoffentlich Nutellakuchen, ergänzte ich im Stillen die Regel.

„Und die dritte Regel: Wem es in dieser Runde emotional zu viel wird, der kann jederzeit den Raum verlassen“, schloss Jürgen seine Einführung. Das fand ich etwas eigenartig, aber da ich eh davon ausging, dass hier niemand mit Gewalt zum Nutellaverzehr gezwungen wird, stimmte ich auch dieser Regel zu.

„Also gut“, ergriff Jürgen wieder das Wort. „Ich denke wir sind vollständig. Wer möchte heute von seinen Erfahrungen berichten?“

Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Die Art Stille, die ich von der Schule aus dem Englischunterricht kannte. Auf solche Fragen meldete sich meistens niemand, weil erstens keiner die Hausaufgaben gemacht hatte. Und zweitens meldete sich niemand, weil man nur zwei Möglichkeiten hatte: entweder man wusste die richtige Antwort, dann stand man vor den Mitschülern als Streber da. Oder man wusste die richtige Antwort nicht, dann bekam man eine schlechte Note. Beides keine motivierenden Aussichten.

Ich überlegte kurz, ob ich einen Witz zum Besten geben sollte:

Wie macht man eigentlich Nutella? Ganz einfach: Man stellt Mamatella und Papatella in den Küchenschrank – und raus kommen die Babytellas.

Doch das schien mir jetzt doch etwas zu plump, also wartete ich erstmal ab.

Nutellafamilie

„Nun, wer traut sich?“, versuchte Jürgen es noch einmal. Alle schauten betreten zu Boden oder beobachteten intensiv die Flecken an der Holzdecke.

Ich gab mir einen Ruck. „Na ja, ich könnte ein kleines Gedicht zur Auflockerung vortragen“, bot ich an. Mir war neulich etwas Lustiges beim Frühstück eingefallen, und hier konnte etwas humorige Leichtigkeit vielleicht das Eis brechen. So zum Einstieg, dachte ich.

Jürgen war begeistert. „Also das ist ja toll, gleich beim ersten Mal so mutig, dann mal raus damit!“, ermunterte er mich.

Ich räusperte mich. Dann begann ich mit meinem Vortrag:

Matt glänzt auf dem Bauernbrot
ne dicke Schicht Nutella.
Lacht und lockt veführerisch
von meinem Frühstücksteller.

Doch schon beim ersten zarten Biss
das Biest sich wehrt und windet;
aus meiner Hand den schnellen Weg
zum Teppichboden findet.

Ich weiß nicht, welche Reaktion ich erwartet hatte, aber diese ganz bestimmt nicht. Einige lange Sekunden war es totenstill im Raum. Dann schluchzte mir gegenüber ein Rollstuhlfahrer auf.

„Oh ja, verdammt richtig“, schniefte er. „Mich hat dein verführerisches Biest beide Beine gekostet, bevor ich es auf den Boden werfen konnte“. Dann rollte er aus dem Raum in Richtung Toilette.

Ich schaute wohl etwas konsterniert, denn Jürgen beugte sich zu mir und flüsterte: „Reinhard hatte wegen seiner Nutellasucht jahrelang starke Diabetes. Erst als die Ärzte ihm beide Beine amputieren mussten, schaffte er den Entzug. Dein Gedicht hat ihn wohl etwas aufgewühlt.“

Ich war schockiert.

Neben mir saß ein dünner nervöser Typ. Er schaute mich provozierend an: „Und wie kommst du selber so mit deinem Nutellaproblem zurecht?“

„Ich? Ich hab kein Problem mit Nutella“, erwiderte ich spontan. „Das einzige Problem ist, dass die Gläser immer so schnell leer sind. Und selbst das ist besser geworden, seit ich von einem ganz lieben Menschen diesen Nutellaglas-Ausschaber aus anschmiegsamem Kunststoff geschenkt bekommen habe. Den kann ich wirklich empfehlen, man kommt damit in jede Ritze.“

leeres nutellaglas mit gummischaber

Der Dünne zog die Augenbrauen hoch, lächelte wissend und sagte nichts.

„Was denn? Ich hab wirklich kein Problem mit Nutella! Ich liebe Nutella“, bekräftigte ich nochmal meinen Standpunkt.

Jürgen ergriff das Wort. „Marc O, du musst dich nicht verteidigen. Die meisten kommen zu uns während sie noch mitten in der Verleugnungsphase sind. Man braucht eine Weile, bis man sich sein Problem eingestehen kann. Genau deshalb treffen sich die ANNA hier regelmäßig.“

„Wo ist eigentlich diese Anna?“, wollte ich jetzt wissen.

„Anna? welche Anna? Ja weißt du denn nicht, dass wir die Anonymen Nuss-Nougat Abhängigen sind?“, wunderte sich Jürgen. „Oder dachtest du, wir wären hier so ne Art Fanclub, mit Nutellarezepten und so?“

Ich sagte nichts mehr. Ich fühlte mich plötzlich sehr unwohl.

Jürgen versuchte, die Situation zu retten. „Hermann, willst du uns nicht deine Geschichte erzählen? Du bist so ein motivierendes Beispiel für uns alle.“

Hermann zögerte nur kurz. „Also gut“, raffte er sich dann auf. „Ich bin Hermann und ich bin seit 427 Tagen trocken.“

„Hallo Hermann“, murmelte die Gruppe halblaut. „Wir eifern deinem Vorbild nach.“

Neben Hermann lachte ein fettleibiger Typ mit ungepflegtem Äußeren spöttisch auf.

„Bilde dir nur nicht zu viel darauf ein“, maulte er. „Ich war über drei Jahre lang trocken und dann brachte Ferrero die Nutella-Edition mit den Fünf-Kilo-Eimern heraus. Sei dir niemals zu sicher, sonst hast du schneller einen Rückfall als du „Palmfett“ sagen kannst!“

Hermann ignorierte den Einwand und erzählte uns seine Geschichte. Er hatte jahrelang ein klassisches Spießerleben als erfolgreicher Bankangestellter geführt. Seine hübsche Frau war Elternbeirätin im Kindergarten, die beiden Kinder gediehen prächtig. Einfamilienhaus mit Garten in der Vorstadt und Doppelgarage mit Mercedes. Jeden Sommer Urlaub an der Cote d‘Azur, im Winter Skifahren in Davos.

Niemand ahnte von seinem Doppelleben, denn er hatte seine Sucht perfekt kaschiert. Er hatte ohne Wissen seiner Frau ein eigenes Konto bei seiner Bank laufen, von dem er heimlich seinen Stoff besorgte. Den Stoff hatte er in mehreren anonym angemieteten Schließfächern deponiert, und jedesmal, wenn er im Tresorraum etwas zu erledigen hatte, zog er sich ein zwei Löffel Nutella pur rein. Ich dachte kurz an meinen Nutella-to-go-Vorrat im Büro, verdrängte diesen Gedanken aber schnell wieder.

Jahrelang war alles gut gegangen. Bis Hermann eines Tages vom Filialleiter im Tresorraum ohnmächtig auf dem Boden liegend gefunden wurde, Gesicht, Hände und Anzug voll verschmiert mit braunen Flecken. Zuckerkoma.

Die Presse überschlug sich mit Sensationsmeldungen:

„Nutella-Orgien im Tresorraum – die heimlichen Laster einer Bankiersfamilie“, titelte Bild der Frau. Und Bild am Sonntag legte noch eine Schippe drauf:

„Koma-Banker frisst den Tresor leer. Wo ist unser Geld?“

Als Hermann nach sechs Wochen aus der Klinik entlassen wurde, hatte seine Frau bereits die Scheidung eingereicht. Das Haus war aus steuerlichen Gründen auf sie eingetragen und damit genau so weg wie sein Job. Wenn es mal bergab geht, ist man sehr schnell ganz unten.

Dann war Hermann ein halbes Jahr ins Schweigekloster gegangen und dort hatte er die Kraft gefunden, seine Sucht zu bekämpfen. Und es war ein harter Kampf. Die Mönche im Kloster stellten ihn erst von Nutella auf Nusspli um, dann auf kalorienreduziertes Nutoka und schließlich auf einen fettfreien veganen Gemüseaufstrich. Seine markzerfetzenden Schreie hallten nachts durch die Kellergewölbe des Klosters, aber die Mönche waren gnadenlos konsequent. Nach drei entbehrungsreichen Monaten in der Hölle war Hermann sauber.

Er beendete seine Erzählung mit den Worten: „ Wenn ihr es wirklich wollt, dann schafft ihr es auch“. Wir schwiegen lange und als das Treffen zu Ende ging, umarmten wir uns alle innig.

Fortsetzung auf Seite 2

9 Kommentare zu „Nutella“

  1. Köstlich… da hast du was mit meinem Liebsten gemeinsam. Ich bin jeden Tag dabei, die abgeschleckten Teelöffel mit Nutella-Resten vom Waschbeckenrand aufzusammeln… 🙂

    Es gibt eine neue Nusscreme im Glas von Milka, hast du die schon probiert? Ich finde sie nicht schlecht…

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    1. Nein, die kenne ich noch nicht. Als Nutella-Junkie fällt es mir immer schwer, Alternativen zu probieren.😏
      Viele Grüße an deinen Liebsten; es ist erstaunlich, wieviele Männer meine Leidenschaft teilen…

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  2. Der Schaber ist DIE Lösung und hätte viel Leid erspart, wäre er einem Freund zeitig bekannt gewesen, denke ich. Er liebte einst dito den süßen Matsch, bis er eines Tages ein Trauma der besonderen Art erlitt, das ihn fortan abstinent leben ließ. Und das kam so:

    Er wuchs in einer kinderreichen, orientalischen Familie auf, Nutella wurde stets aus den ganz großen Gläsern konsumiert. Hemmungslos schlich man selbst des Nachts zum Potte, um die Gier zu stillen. Mein Freund war da keine Ausnahme. Bis er eines Nachts eine furchtbare Entdeckung machte, die ihn auf einen Schlag für alle Zeiten von seiner Sucht befreien sollte – Teile der Armbehaarung seines älteren Bruders am inneren Glasrand. Der Schock war unermesslich ~~~

    Lieben Gruß, Reiner – Einzelkind 🙂

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  3. Ich kann da nicht wirklich mitreden, können wir das Thema auf leckere Schweizer Schokolade ausweiten (also, richtige, nicht so das, was bei uns im Regal rumliegt)? Da könnte ich – ein Glück, dass die Schweiz zwar nicht sehr weit ab, aber teuer ist, so verkneift man sich doch die eine oder andere Schandtat.
    Aber ich verstehe schon. So eine Tagel z.B. – das ist ja immer eine Portion, oder? He, ihr redet mit jemandem, der in seinen besten Tagen auch 1 so ein Marzipanbrot am Stück aß! Dafür versuche ich die Häufigkeit, siehe oben, in den Griff zu bekommen.
    Es ist natürlich nicht sehr wahrscheinlich, dass ein einzelnes Nahrungsmittel einen krank macht. Da müßte das Übermaß schon arg übermäßig sein. Unmäßig. Aber in den richtigen Kombinationen, nun…
    Mir fällt dazu auch noch so ein Webcomic ein (Ponyhof? Eine Zeichnerin aus Köln, weiß ich noch), in der, minimal verfremdet, diese Ferrero – Creme auch ihre Rolle spielen durfte.

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