Mich hatten die Schicksale der anonymen Nuss-Nougat-Abhängigen sehr nachdenklich gemacht. Am meisten beeindruckte es mich, wie offen sie über ihre Probleme sprechen konnten. Trotzdem dauerte es noch fünf weitere Treffen bis ich den Mut fand, meine eigene Geschichte zu erzählen:
„Hallo, ich bin Marc O.“, begann ich meine Erzählung. „und ich bin übrigens immer noch nicht weg vom Nutellaglas.“
„Hallo Marc O.“, murmelte die Gruppe im Chor. „Wir fühlen mit dir. Gemeinsam sind wir stark.“
„Die meisten von euch wissen, dass ich schon als Kind mit der Droge in Kontakt kam. Der Einstieg lief bei mir fast unmerklich über ganz normale Schokolade. Meine Oma, die im Haus ein Stockwerk über uns wohnte, hatte ein ausgeklügeltes Belohnungssystem entwickelt: In ihrem Vorratsschrank hortete sie immer einen Stapel mit über Hundert Schokoladentafeln verschiedener Sorten, meist Milka, manchmal aber auch Ritter Sport, Sprenger oder Stollwerk, je nachdem, was gerade im Sonderangebot war.
Für eine „normale“ Gefälligkeit, wie zum Beispiel Müll runter bringen, durfte man sich eine „einfache“ Sorte aus ihrem Stapel aussuchen. Als einfache Sorten galten Vollmilch, Zartbitter und Nuss. Für besondere Dienste, wie beispielsweise eine Stunde mit ihr spazieren zu gehen und sich ihre Monologe anzuhören, gab es freie Auswahl aus den „besseren“ Sorten. Zu den besseren Sorten gehörten Nougat, Trüffel, Marzipanfüllung, Sahne, Mokka und weiße Schokolade.
Dieses System könnte heute ernährungsphysiologische Fragezeichen aufwerfen, aber wir reden hier über die Sechzigerjahre. Meine Oma wurde deutlich vor dem ersten Weltkrieg geboren und auch der zweite Weltkrieg war damals gerade mal schlappe zwanzig Jahre her. Man musste also in ihrem Weltbild jederzeit damit rechnen, dass „der Russe“ Probleme machte und mit seinen Panzern den dritten Weltkrieg anzettelte. Erst neulich hatte es dieser Chruschtschow auf Kuba wieder versucht und nur dieser gutaussehende Kennedy konnte ihn gerade noch in seine Schranken verweisen. Da war es doch sicher nicht verkehrt, schon mal einen Notvorrat an Schokolade anzulegen und die Enkelkinder teilhaben zu lassen. Für alle Fälle.
Jede Oma hat einen Spleen. Meine hatte eine ganze Menge davon.
Ich werde beispielsweise nie vergessen, wie sie ihre Medikamente einnahm. Und sie hatte eine beachtliche Menge an Tabletten im Laufe ihres Lebens angesammelt. Über zwanzig Pillenschachteln standen auf ihrer Anrichte. Die Einnahme der Tabletten war eine Prozedur, die einer japanischen Teezeremonie in nichts nachstand. Akribisch richtete sie die Pillen her und spülte eine nach der anderen mit einem Schluck Wasser hinunter. Zum Schluss kam das Granulat gegen Verstopfung, das sie mit einem angewiderten Gesichtsausdruck in den Mund nahm. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und schluckte während sie wie eine Besessene bei der Teufelsaustreibung mit dem ganzen Körper zuckte.
Nach dem Mittagessen machte meine Oma immer ein Nickerchen auf ihrem Sofa. Sie lag auf dem Rücken, die Hände über dem Bauch gefaltet und hatte eine dünne Decke bis zum Hals hoch gezogen. Während ich im Fernseher quälend lange Tennisspiele mit Steffi Graf und Boris Becker anschaute, lag sie wie eine Tote im Sarg aufgebahrt. Manchmal setzte ihre Atmung für ein paar Sekunden aus und ich war schon beunruhigt, aber dann holte sie tief Luft und atmete weiter als ob nichts gewesen wäre.
Faszinierend war auch, dass sie immer die Namen ihrer beiden einzigen Enkel verwechselte. In Zweiunddreißig Jahren erlebte ich es kein einziges Mal, dass sie mich mit dem richtigen Vornamen ansprach. Zu mir sagte sie immer den Namen meines Bruders; meinen Bruder sprach sie ausnahmslos mit meinem Vornamen an. Darin war sie sehr konsequent. Sie hielt das sogar durch, wenn wir beide anwesend waren. Zwei Tage vor ihrem Tod besuchte ich sie ein letztes Mal. Die Ärzte hatten ihre Medikamente abgesetzt, weil sie keinen Sinn mehr darin sahen. Das führte dazu, dass meine Oma zum ersten Mal seit drei Jahren wieder klar im Kopf wurde.
„Hallo Oma“, begrüßte ich sie. „Kennst du mich?“.
„Roger, bist du das?“, fragte sie und schaute mich an.
Dann lächelte sie spitzbübisch und flüsterte mir ins Ohr: „Sei mir nicht böse, dass ich immer Roger zu dir gesagt habe. Ich weiß doch, dass du gar nicht Roger bist. Du bist der Uwe.“
Heutzutage hätte meine Oma mit ihren Sparkünsten eine berühmte Youtuberin werden können. „Wie du mit 7 Mark Fuffzig einen Monat überleben kannst“, so wäre der Titel ihres Kanals gewesen. Darin hätte sie Haushaltstipps geben können, wie man beispielsweise Geschenkpapier vom Beschenkten zurückfordert und bügelt, um es möglichst oft wieder zu verwenden. Oder was man alles aus sauer gewordener Milch kochen kann. Oder dass Duschen total überschätzt wird und man mit einem Waschlappen und einem Waschbecken ganz gut zurecht kommt, natürlich mit kaltem Wasser. Dafür umgab sie aber auch immer ein gewisser strenger Geruch. Wie Mottenpulver, das nass geworden war.
Meine Oma lebte jeden Herbst zwei Monate lang fast ausschließlich von Pflaumen aus unserem Garten (Das wäre doch eine Sünde, das gute Obst wegzuwerfen!). Jeden Morgen sammelte sie die runter gefallenen Stücke auf und schnitt die faulen Stellen aus den aufgeplatzten Früchten weg. Wenn eine Pflaume vom Auto überfahren wurde, konnte man immer noch ein paar Stellen für Kompott raus schneiden. Eines Tages wurde meine Oma vom Hausarzt mit Blausäurevergiftung ins Krankenhaus eingeliefert.
Ihren Freundinnen, die sie zu meiner Verwunderung immer siezte, schenkte meine Oma immer Pralinen mit abgelaufenem Verfallsdatum aus dem Wühltisch mit reduzierten Artikeln bei Norma. Immerhin spielte sie mit offenen Karten, denn bei der Geschenkübergabe klärte sie das Geburtstagskind auf: „Die müssen Sie aber bald essen, die sind nämlich schon abgelaufen.“
Aber ich schweife ab, zurück zum Belohnungssystem: Die Bezahlung erfolgte meist am Sonntag bei der Sendung mit der Maus, die mein Bruder und ich immer bei meiner Oma anschauten. Da die Sendung mit der Maus immer Sonntags um halb zwölf ausgestrahlt wurde (wir reden hier von Zeiten, in denen es noch kein Internet, kein Youtube und kein Video-on-Demand gab) ergab es sich, dass wir direkt vor dem Mittagessen eine Tafel Schokolade zu uns nahmen. Quasi als Fundament.
Unsere Mutter, die von diesem Belohnungssystem nichts wusste, wunderte sich immer mehr, dass wir Jungs mittags keinen Hunger hatten und machte sich zunehmend Sorgen über unsere Gesundheit. Am frühen Nachmittag ließ die Sättigungswirkung der Schokolade nach und wir bekamen Kohldampf. Unsere Eltern hatten in einem Erziehungsratgeber gelesen, dass schlechte Esser (und in diese Kategorie wurden wir inzwischen eingeordnet) durch Konsequenz zu einem gesunden, regelmäßigen Essverhalten erzogen werden können. Daher verweigerte sie uns Zwischenmahlzeiten in der Hoffnung, dass wir dafür beim Abendessen um so mehr zuschlagen würden.
Die Rechnung ging leider nicht auf, denn auch meine andere Oma wohnte bei uns im Haus, in der Wohnung unter uns. Ein kurzer Besuch am Nachmittag, ein kleines Jammern und schon zog Oma ihren Dr. Oetker-Sahnepudding oder ein Stück Buttercremetorte aus dem Kühlschrank. Meine Mutter versuchte verzweifelt, uns mit ausgeklügelten Rezepten an gesundes Essen heranzuführen, doch alle Versuche scheiterten an der Schattenversorgung durch zwei Omas.
Mit Dreizehn konsumierte ich vier Tafeln Schokolade am Tag, aber ich war trotzdem unzufrieden. Schokolade hat einfach auf Dauer zu wenig Fett.“
Einige Veteranen in der Runde nickten verständnisvoll.
„Also suchte ich nach anderen Sorten, die mir mehr Befriedigung verschaffen könnten. Ich tauschte meine Belohnungstafeln bei meinen Schulfreunden gegen exklusivere Marken – Zwei Tafeln Milka Vollmilch gegen eine Lindor. Ich fraß mich durch das gesamte Sortiment der Schweizer Lebensmittelgeschäfte. Vergeblich. Die Suche nach dem ultimativen Stoff, der glücklich macht, wurde zu einer fixen Idee.
Ich sammelte die Schokoladenpapiere und hatte bald zweitausend verschiedene Einwickelpapiere zusammen, darunter das komplette Milkasortiment von Deutschland, Österreich und der Schweiz, sowie mehrere vollständige Jahrgänge von Lindt&Sprüngli. Die Sammlung enthielt grauenhafte Billigware mit unsäglich schlecht schmeckenden künstlichen Zuckerfüllungen, die den Namen Schokolade durch ihre bloße Existenz beschmutzten. Und köstliche Kreationen, vorwiegend von Schweizer Maitres de Chocolatier, die in Handarbeit erlesene Kakaobohnen zu kleinen Köstlichkeiten verarbeiteten.“
Einige meiner Zuhörer hatten glänzende Augen bekommen. Ein Neuling in unserer Runde biss sich mit flackerndem Blick in die Hand. Ich achtete nicht weiter darauf und fuhr fort.
„Erst Jahre später fand ich zufällig heraus, dass ein Sammler einen Eintrag ins Guiness Buch der Rekorde bekam, weil er zweitausendfünfhundert verschiedene Schokoladenpapiere sein eigen nannte. Ich war also mit meiner Sammlung in der Weltspitze dabei, wenn man so wollte, aber mein Verlangen war immer noch nicht gestillt.
Irgendwann stieg ich auf Pralinen um. Vor allem Trüffel gaben mir den Kick, den ich so dringend brauchte. Mit Fünfzehn war ich Stammkunde bei der Konditorei Weber& Weiß, Ehrenmitglied im Verband der Schweizer Cocolatiers. Der Stoff von Weber&Weiß war hochwertig, aber leider auch sehr teuer. Mein Taschengeld reichte schon lange nicht mehr aus und ich verdiente mir ein paar Kröten dazu, indem ich Prospekte austrug. Aber auch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ich versuchte, meine Rationen zu reduzieren, aber der Drang war einfach übermächtig. Irgendwann war ich kurz vor dem Abrutschen in die Beschaffungskriminalität. Meine Eltern merkten nichts von meinem allmählichen Abstieg. Ich ging ganz normal zur Schule, hatte Freunde und war nach außen ein normaler Junge, der Schokolade mochte.
Wahrscheinlich wäre ich bald in der Gosse oder im Knast gelandet. Aber mit Siebzehn wendete sich das Blatt und der Frühling brach mitten im Dezember an. Meine Mutter hatte die neueste Ausgabe von Brigitte auf dem Wohnzimmertisch liegen gelassen, um sich durch die Weihnachtsmenüs inspirieren zu lassen. Die Titelgeschichten lautete „Leckere Pralinen selbst gemacht – das perfekte Geschenk“. Ich las die Rezepte und mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Die Rohmaterialien kosteten nur ein Zehntel von dem Stoff bei Weber&Weiß. Heureka!
Ich beschaffte mir noch in der selben Woche ein Edelstahlset mit Thermometer und Pralinengabeln und machte mich ans Werk. Vordergründig machte ich Pralinen, um sie zu Weihnachten an liebe Freunde und die Familie zu verschenken. Aber den größten Teil des Materials verwendete ich für den Eigengebrauch.
Mein Beschaffungsproblem war damit nachhaltig gelöst. Ich konnte mir jederzeit so viel Nachschub selbst erzeugen, wie ich brauchte. Und mein neues Hobby hatte sogar noch positive Nebeneffekte: Alle Tanten und Verwandten waren ganz begeistert von dem jungen Mann, der so leckere Pralinen machen konnte.
Jedenfalls, um es kurz zu machen – Ich hatte mich mit der Situation arrangiert. Später stieg ich auf Nutella um, denn das war wesentlich gesellschaftsfähiger als Pralinen und außerdem nicht so kostspielig. Seit Jahrzehnten sorge ich dafür, dass mir der Nutellavorrat nie ausgeht. Meine Frau ahnt nichts davon, aber neben den harmlosen Mengen, die ich Zuhause zu mir nehme, vertilge ich im Büro ein Vielfaches davon. Mit graut schon vor der Rente. Da muss ich mir noch etwas einfallen lassen. Das bleibt aber unter uns“, blickte ich flehend in die Runde.
Die versammelte Gruppe schaute verschwörerisch. Einer drehte mit der Hand vor seinem Mund einen imaginären Schlüssel um und warf ihn mit einer Geste hinter sich.
Als ich geendet hatte, ergriff Jürgen als Erster das Wort. „Und wie lange willst du so noch weiter machen?“, stellte er die verhängnisvolle Frage.
„Also, ich weiß, ihr seid hier alle auf der Flucht vor Nutella“, entgegnete ich. „Aber bei mir ist das alles anders. Meine Zuckerwerte sind einwandfrei, mein Gewicht ist stabil und ich sehe keinen Grund etwas zu ändern. Ich könnte jederzeit aufhören, wenn ich wollte, aber ich will es einfach nicht.“
„Hm, so so“, murmelte Jürgen nachdenklich. „Also alles bestens bei dir? Keine Schlafstörungen, kein Herzflattern, alles in Ordnung. Wahrscheinlich hast du auch keine Visionen?“
Kurz schob sich das Bild eines Wurms in einem Teich aus Nutella vor mein inneres Auge, aber ich blinzelte es weg.
„Heute warst du sehr mutig, dass du uns deine Geschichte erzählt hast“, wandte sich Jürgen an mich. „Deshalb werde ich jetzt nicht weiter in dich dringen. Aber nächstes Mal müssen wir uns das schon noch genauer anschauen. Das wird etwas ungemütlich werden, aber die Wahrheit über sich selbst zu erkennen, ist eben kein Zuckerschlecken.“
Ich ging ab diesem Tag nicht mehr zu den ANNA-Treffen. Schließlich musste ich mich auf den 05. Februar vorbereiten. Dann ist nämlich wieder Welt-Nutella-Tag. Ein Mann muss eben Prioritäten setzen.

Köstlich… da hast du was mit meinem Liebsten gemeinsam. Ich bin jeden Tag dabei, die abgeschleckten Teelöffel mit Nutella-Resten vom Waschbeckenrand aufzusammeln… 🙂
Es gibt eine neue Nusscreme im Glas von Milka, hast du die schon probiert? Ich finde sie nicht schlecht…
LikeGefällt 1 Person
Nein, die kenne ich noch nicht. Als Nutella-Junkie fällt es mir immer schwer, Alternativen zu probieren.😏
Viele Grüße an deinen Liebsten; es ist erstaunlich, wieviele Männer meine Leidenschaft teilen…
LikeGefällt 1 Person
Ja, das stimmt. Aber er ist sowieso so ein Schokoladen-Suchti. Und ich dachte schon, ich hätte ein Problem… 😉
LikeGefällt 1 Person
Der Schaber ist DIE Lösung und hätte viel Leid erspart, wäre er einem Freund zeitig bekannt gewesen, denke ich. Er liebte einst dito den süßen Matsch, bis er eines Tages ein Trauma der besonderen Art erlitt, das ihn fortan abstinent leben ließ. Und das kam so:
Er wuchs in einer kinderreichen, orientalischen Familie auf, Nutella wurde stets aus den ganz großen Gläsern konsumiert. Hemmungslos schlich man selbst des Nachts zum Potte, um die Gier zu stillen. Mein Freund war da keine Ausnahme. Bis er eines Nachts eine furchtbare Entdeckung machte, die ihn auf einen Schlag für alle Zeiten von seiner Sucht befreien sollte – Teile der Armbehaarung seines älteren Bruders am inneren Glasrand. Der Schock war unermesslich ~~~
Lieben Gruß, Reiner – Einzelkind 🙂
LikeGefällt 1 Person
😂😂😂Oh mein Gott, ein Alptraum. Bei uns gibt es getrennte Nutellagläser!
LikeGefällt 1 Person
🙂
LikeLike
Ich kann da nicht wirklich mitreden, können wir das Thema auf leckere Schweizer Schokolade ausweiten (also, richtige, nicht so das, was bei uns im Regal rumliegt)? Da könnte ich – ein Glück, dass die Schweiz zwar nicht sehr weit ab, aber teuer ist, so verkneift man sich doch die eine oder andere Schandtat.
Aber ich verstehe schon. So eine Tagel z.B. – das ist ja immer eine Portion, oder? He, ihr redet mit jemandem, der in seinen besten Tagen auch 1 so ein Marzipanbrot am Stück aß! Dafür versuche ich die Häufigkeit, siehe oben, in den Griff zu bekommen.
Es ist natürlich nicht sehr wahrscheinlich, dass ein einzelnes Nahrungsmittel einen krank macht. Da müßte das Übermaß schon arg übermäßig sein. Unmäßig. Aber in den richtigen Kombinationen, nun…
Mir fällt dazu auch noch so ein Webcomic ein (Ponyhof? Eine Zeichnerin aus Köln, weiß ich noch), in der, minimal verfremdet, diese Ferrero – Creme auch ihre Rolle spielen durfte.
LikeGefällt 1 Person
Ich sehe schon, du bist vom Fach 😃
LikeLike
Ich habe den Typ, der immer Kekse ruft, nie verstanden – die Füllung tuts doch, oder?
LikeLike