Barcelona

Tagebuch einer entgleisten Kulturreise

Donnerstag – Vorbereitungen

Dieser Donnerstag ist ein ganz normaler Arbeitstag. Nichts deutet auf die denkwürdigen Ereignisse hin, die in wenigen Stunden ihren Lauf nehmen werden. Abends im Tischtennistraining ist eine Abschlussbesprechung vor der Städtereise nach Barcelona angesetzt. Neun Männer ziehen in die weite Welt, um nach einer anstrengenden Saison die spanische Kultur zu erleben. Auf dem Weg ins Training kommt eine SMS rein. Wolle, der die Reise geplant, gebucht und organisiert hat, kann leider, leider nicht mitkommen. Ein wichtiger Geschäftstermin in Istanbul erfordert seine Anwesenheit. Die Flugunterlagen sind somit auch in Istanbul, aber es ist ja alles online gebucht, also einfach Ausweise mitnehmen und es kann nichts schief gehen. Viel Spaß, Jungs und denkt an mich! Da waren’s nur noch Acht.

Die Rolle des Organisators übernimmt ohne Diskussion Schnuppi. Eigentlich heißt er Rolf, aber seit der letzten Weihnachtsfeier nennen ihn alle Schnuppi, weil er bei zwei Promille die Sternschnuppe so hingebungsvoll im Krippenspiel gegeben hatte. Schnuppi hat alles per Mail mit Wolle geklärt. Er ist sich sicher, dass der Flug um 06:55 ab Stuttgart geht. Rückflugzeiten weiß er gerade nicht auswendig, aber irgendwann Sonntag Abend.

Oder war der Abflug um fünf vor sechs? Egal, Sportler sind da robust und haben keine Nerven. Also planen wir einfach eine Reserve ein; man kann zur Not ja noch ein Bierchen am Flughafen zischen. Außerdem erlaubt die Buchung nur Handgepäck, da geht das eh alles fix beim Einchecken.

Freitag – die Reise nimmt Fahrt auf

Treffpunkt für die beiden Autos ist um 02:00 Uhr nachts am Hugo’s in Ravensburg. Wir „Älteren“ fahren nach einer gefühlten Sekunde Schlaf mit Fahrzeug 1 nach Ravensburg, während das Jungvolk sich dort schon mal in der Disco austobt und die Nacht durchmacht. Gut so, dann werden sie schon in Barcelona umso ruhiger sein, denke ich mir. Welch krasse Fehleinschätzung.

Die Abfahrt vom Hugo’s gelingt mit nur minimaler Verspätung. Aus Fahrzeug 2 kommen laute Gröhlgeräusche und die Dauerhupe zeigt den Anwohnern an, dass hier Dinge ihren Lauf nehmen, die wichtiger als der Nachtschlaf der schwäbischen Bevölkerung sind. Ich bin erleichtert, dass wir die Fahrzeugbesetzung nach nüchtern/ besoffen aufgeteilt haben und freue mich auf die architektonischen Schönheiten Barcelonas.

Auf der Umgehungsstraße von Ravensburg überholt uns Fahrzeug 2 laut hupend. Aus den offenen Fenstern ragen die beiden nackten Hinterteile von Bernd und Schnuppi in den schwäbischen Nachthimmel. Die Nulllinie für das Niveau ist damit gesetzt. Zumindest vorerst…

An einer Tankstelle in Ulm machen wir eine Pinkelpause. In Fahrzeug 2 führt irgendeine Belanglosigkeit dazu, dass sich Schnuppi sturzbesoffen auf den Weg über die sechsspurige Stadtautobahn macht, um wieder nach Hause zu trampen. „Ihr ssseid ssso gemein, mit eusch fahr ich nich innen Urlaub“, lallt er beleidigt. Wir schicken eine Rettungsmannschaft, bergen den verlorenen Sohn und verschwinden, bevor die Polizei auf uns aufmerksam wird.

In der Nähe des Stuttgarter Flughafens parken wir Fahrzeug 2 in einem Kaff ohne Namen um Parkgebühren zu sparen. Und dann geht es zu acht im Siebensitzer an den Flughafen. Ich frage, mit welcher Fluglinie wir denn eigentlich fliegen. Schnuppi murmelt, dass er diesen Scheiß-PDF-Anhang von Wolle auf seinem Handy nicht öffnen kann. Der Scheißanhang ist unsere Onlinebuchung.

Im Flughafen herrscht eine frühmorgendliche Schläfrigkeit. Da um diese unchristliche Zeit nur ein einziger Flug nach Barcelona geht, wird schnell klar, dass wir mit German Wings fliegen. Leider akzeptiert der Checkin-Automat mehrere Ausweise nicht und eine Ticketnummer kennen wir nicht. Lautes Durcheinander entsteht. Besoffene übertönen sich gegenseitig mit Vorwürfen. Die Sicherheitsbeamten werden auf uns aufmerksam. Ich setze meine beruhigende Wirkung ein, um die Kameraden zu mäßigen und lächle den Beamten vertrauensvoll zu. Keine Sorge – alles im Griff, versuche ich mit meiner Mimik zu signalisieren. Eine Runde Snickers besänftigt die aufgebrachten Diven und wir nehmen die nächste Challenge in Angriff.

Bewaffnet mit acht Bordkarten vom German Wings-Schalter, geht es im nächsten Level direkt zur Sicherheitskontrolle. Auch das ist eine Hürde, die wir nur mit viel Mühe bewältigen. Alan legt sich mit dem Beamten an, der ihn mit dem Gummiquietscher abtastet und unterstellt ihm homosexuelle Motive, die der Mann aber zum Glück nicht hört. Alan heißt eigentlich anders, aber seit dem Hollywood-Blockbuster „Hangover“ nennen ihn alle so, weil er ähnliche Wirkungen auf seine Umgebung ausübt, wie der Drogen verteilende Alan im Film.

Da wir noch ausreichend Zeit bis zum Abflug haben, stärken wir uns erstmal. Acht Halbe Stuttgarter Hofbräu werden unter lautem Hallo im Sicherheitsbereich geleert. Und da man auf einem Bein nicht lange stehen kann, steht die zweite Runde vor uns, bevor ich mein Bier halb leer habe. Morgens um halb sechs bin ich noch nicht so trinkfest und halte mich unauffällig zurück. Die Stimmung steigt von Minute zu Minute. Ich versuche, so zu tun, als ob ich nur zufällig in der Nähe sitze und studiere intensiv ein Werbeplakat.

Dann läuft unsere Reisegruppe am Abflug-Gate nach Barcelona ein. Nur einzelne Sitzplätze sind noch frei. Überall sitzen gelangweilte, schlaftrunkene Geschäftsreisende, da am Nachbar-Gate fast zeitgleich ein Flug nach Brüssel geht. Aktuelle Börsennachrichten werden von grauhaarigen Anzugträgern analysiert, einige ältere Herrschaften dösen vor sich hin. Die Damen lesen in Brigitte, die Herren im Fokus oder der FAZ. Aber dieses schläfrige Idyll wird nun schlagartig beendet.

Denn Frank, unser Silberrücken, ist inzwischen in Kampfstimmung. Er stellt sich breitbeinig hin, rückt sein selbstgestricktes Mützchen auf dem kurzrasierten Schädel zurecht, holt tief Luft und schreit mit voller Lautstärke „F I C K E E E E E N !!!!!!!“.

Etwa dreihundert Blicke richten sich auf unsere Gruppe. Erst erschrocken wegen der unerwarteten Lautstärke, die in den hallenden Warteräumen noch verstärkt wird. Nach drei endlosen Sekunden in lähmender Stille merken dann die meisten Mitbürger, dass es sich nicht um einen Terrorangriff handelt. Dann verarbeiten die Ersten die Bedeutung des Wortes und die Gesichtszüge entgleisen in ungläubige, belustigte, entsetzte, missbilligende oder schockierte Mienen, je nach Grad der katholischen Erziehung.

Nur drei spanische Frauen um die Siebzig, die offenbar das Wort in seiner Bedeutung nicht einordnen konnten, kichern wie Teenager und werfen verstohlene Blicke auf den germanischen Heißsporn.

Frank läuft jetzt zu Hochform auf. Er baut sich breitbeinig direkt vor einem seriösen älteren Herrn im taubengrauen Anzug mit dicker Hornbrille und Halbglatze auf, hakt seine Daumen links und rechts in seinen Ledergürtel ein und spricht ihn mit lauter Stimme an: “Und du, was ist mit dir? Freust du dich jetzt, dass du mit uns zwei Stunden lang in einem Flugzeug sitzen darfst?“

Der Herr senkt seine Wirtschaftszeitung, zaubert sichtlich angestrengt ein tapferes Lächeln ins Gesicht und sagt: „Leider führen meine Termine mich nach Brüssel, aber es wäre mir ein Vergnügen gewesen“.

„Nach Brüssel? Bist du etwa einer von diesen verlogenen Politikern?“ legt Frank ohne Gnade nach. Während Frank weiter auf den Herrn einredet und ihn mit seiner eigenen Spießigkeit aufzieht, bis seine Brillengläser beschlagen, machen sich die anderen aus unserer Reisegruppe vor Lachen fast in die Hose.

Nur ich versuche zu tun, als ob ich nicht dazu gehöre und schlendere demonstrativ ziellos durch die Abflughalle. Ich bin zwar auch schon etwas angesäuselt, aber meine Gedanken sind immer noch so klar, dass ich realisiere, dass ich genau diesen Flug nach Brüssel mehrmals im Jahr geschäftlich nutze. Es wäre mir doch ziemlich unangenehm, wenn mich hier zufällig Jemand erkennen würde.

Kurz kommt mir der Gedanke, dass ich jetzt noch aus der Unternehmung aussteigen könnte, aber der Schwabe in mir erinnert sich an die dreihundertfünfzig Euronen, die ich damit in den Wind schreiben müsste. Hinter einer Säule entdecke ich Schnuppi, der ebenfalls ungewöhnlich still ist. Er drückt sich in der Ecke rum und macht komische Gesichter, als ob er Bauchschmerzen hätte. Später stellt sich heraus, dass der ältere Herr im grauen Anzug der Chef seines Chefs ist, Leiter des Montagebereichs, in dem Schnuppi gerade seine Probezeit absolviert. Aua.

Im Flugzeug folgen zwei weitere Runden Bier, diesmal allerdings ohne mich. Die Stimmung ist immer noch bestens, als wir mit dem Flughafenbus nach Barcelona einfahren. Da wir um neun Uhr morgens noch nicht im Hotel einchecken können, machen wir es uns in einem Straßencafe am Placa de Catalunya gemütlich und ordern noch eine Runde Bier. Und noch eine. Die Reisegruppe will nicht verstehen, dass ich in diesem Tempo nicht weiter auf den Abgrund zurasen will. Aber zum Glück sind die anderen inzwischen so besoffen, dass sie es nicht merken, dass ich meine Gläser gar nicht mehr austrinke. Irgendjemand kümmert sich dann doch darum, dass alles wegkommt, was auf dem Tisch steht und nach Alkohol riecht.

Der Höhepunkt dieses Reiseabschnitts ist eine Wette: Wenn der eh schon reichlich dichte Domme (Er war bis vor drei Wochen überzeugter Abstinenzler, hatte aber vor der Reise täglich trainiert) eine Halbe auf Ex trinkt, küssen sich Frank und Schnuppi hier in der Öffentlichkeit. Domme schafft die Halbe auf Ex mit Mühe, aber eindeutig regelgerecht. Die Handyaufnahme des Kusses gelingt und wenigstens diesmal haben die Spanier an den Nebentischen auch ihren Spaß. Domme nimmt derweil eine grünliche Gesichtsfarbe an und verschwindet auf dem Klo. Da warens nur noch Sieben.

Eine weitere Wette um drei Halbe auf Ex für einen Zungenkuss scheitert am Veto von Schnuppi, der um seine noch frische Beziehung mit seiner Freundin bangt. Das alles ereignet sich noch vor dem Einchecken im Hotel.

Drei weitere Runden Bier später machen wir uns zu Fuß auf den Weg ins Hotel, dessen genaue Adresse nur Wolle kennt, der noch immer in Istanbul weilt. Eigenartigerweise ist rund um uns herum immer reichlich Platz, obwohl sonst eher Gedränge herrscht. Der Plan ist denkbar einfach: Die Rambla runter bis zur nächsten Metrostation, dann links abbiegen und schon sind wir da. Das funktioniert auch so, allerdings nicht für alle. Frank und Schnuppi sind irgendwo unterwegs verloren gegangen. Schade, dass genau diese Beiden mit leeren Handyakkus unterwegs sind und nicht mitbekommen haben, wie das Hotel heißt. Da warens nur noch Fünf.

Einen halben Tag später treffen wir sie dann wieder am Strand. Männer gehen eben nicht verloren. Das laute Gelächter über die Dummheit dieser Vollpfosten, gepaart mit einigen Fäkalausdrücken und obszönen Gesten aus der Schwulenszene sorgen dafür, dass wir sehr bald am überfüllten Stadtstrand ein schönes Stückchen freie Fläche ganz allein für uns haben. Wir Deutschen sind ja so beliebt auf der Welt. Alle Vorurteile werden noch deutlich übertroffen.

Abends dann Stadtbummel, Paella-Essen und dann versumpfen wir in einem Straßencafe, in dem der Barkeeper alle Hände voll zu tun hat, uns eine Runde Mojitos nach der anderen zu servieren.

kellner bringt getränke
Der Kellner versorgt uns mit Lichtgeschwindigkeit mit Mojitos

Nach der sechsten Runde Mojitos kann kaum noch jemand gerade stehen. Wir zahlen eine Rechnung von 240,50 € aus der Mannschaftskasse. Und unser Kassenwart gibt dem nass geschwitzten Kellner ein Rekordtrinkgeld, selbst für schwäbische Verhältnisse: Minus 50 Cent. Mit schwerer Zunge erklärt er uns, dass 240 € ja wohl völlig ausreichen. Eigentlich hätten wir Rabatt bekommen müssen bei der Menge, die wir konsumiert hatten. Nach längerer Diskussion beschließen wir, noch einen Zwanzig-Euro-Schein als Trinkgeld nachzulegen. Gerade rechtzeitig, denn der Kellner hat soeben nachgezählt und er hat einen ziemlich stechenden Blick. Wie in den Filmen mit Franco Nero, kurz bevor Blut fließt. Wir wollen doch keine stolzen spanischen Dolche im Rücken haben.

Dies war der erste Tag unserer Kulturreise. Fortsetzung auf Seite 2.

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