Sinnlose Orte, die die Welt nicht braucht – Julias Balkon in Verona

Liebe macht blind. Aber so blind, dass man die offensichtliche Sinnlosigkeit einer Touristenattraktion nicht erkennt?

Weil wir unser Wohnmobil am Gardasee fest mit dem italienischen Boden verankert hatten, nahmen wir den öffentlichen Bus nach Verona. In Italien ist Busfahren überhaupt kein Problem – man sucht einfach die passende Haltestelle und wartet auf den nächsten Bus. Fahrpläne darf man dabei nicht zu ernst nehmen. Wir hatten Glück: unser Bus fiel ohne Ankündigung ersatzlos aus. Aber nach kurzer Wartezeit kam ein verspäteter Bus, der eigentlich schon vor über einer Stunde hätte fahren sollen.

Der Bus hält in Verona direkt vor dem Tor zur Altstadt. Von dort sind es nur ein paar Schritte bis zur Piazza Bra, an der die berühmte Arena liegt.

Das Tor zur Altstadt
Piazza Bra
Piazza Bra

Die Arena von Verona ist ein römisches Amphitheater aus rosarotem Marmor, in dem früher Gladiatorenkämpfe und Hinrichtungen ausgetragen wurden. Die überragende Akustik sorgte dafür, dass man auch auf den billigen Plätzen die Schmerzensschreie noch ausgezeichnet hören konnte. Heute wird das Gebäude aus dem gleichen Grund für Opernaufführungen und Konzerte genutzt. Also, wegen der Akustik, nicht wegen der Schmerzensschreie. Manche Arie hört sich allerdings an, als hätte die Sängerin Zahnschmerzen, aber das kann auch an meinem Musikgeschmack liegen. Oder an meinen Ohren.

Arena von Verona
Die Arena von Verona
Arena von Verona
Beeindruckend, auch wenn vom äußeren Ring nur noch vier Bögen stehen

Verona ist stolz auf seine Vergangenheit. In manchen Geschäften hat man sogar den Eindruck, dass die Preise immer noch in Lire ausgezeichnet sind. Anders kann ich mir nicht erklären, warum in der Via Mazzini einige Boutiquen ihre Damen-Oberbekleidung für fünfstellige Summen anbieten. Die Geschäfte laufen so gut, dass sogar die Gullis aus edlem Marmor sind.

Gulli in Verona
Teures Pflaster: Via Mazzini

Die Altstadt von Verona kann man locker zu Fuß erkunden. Man kann dabei nicht viel falsch machen, denn sie ist auf drei Seiten von einem Flüsschen mit dem schönen Namen „Etsch“ begrenzt. Für Fans von Kreuzworträtseln – italienischer Name der Etsch mit fünf Buchstaben: Adige.

Die verwinkelten Gassen bieten immer wieder interessante Ausblicke.

Gasse in Verona
In den Gassen von Verona
Castel San Pietro und römisches Theater
Blick über die Etsch auf Castel San Pietro und das römische Theater

Irgendwann landet man fast automatisch auf der zentral gelegenen Piazza delle Erbe, frei übersetzt: Platz der Erben. Er wird von mittelalterlichen Häusern und Palästen aus verschiedenen Epochen eingerahmt.

Häuser am Piazza delle Erbe
Häuser am Piazza delle Erbe, vermutlich vererbt
Palazzo della ragione
Palazzo della Ragione, Millionenerbe

Der Platz wird vom Torre dei Lamberti überragt, den man für sechs Euro besteigen kann. Für einen Euro Aufpreis darf man den Aufzug benutzen und das ist eine lohnende Investition, denn es sind ziemlich viele Treppen bis oben. Sehr viele. Ich spreche aus Erfahrung.

Torre dei Lamberti
Torre dei Lamberti

Wenn man oben seinen Puls wieder in den grünen Bereich gebracht hat, kann man die Aussicht durch ein Gitter genießen. Aber man sollte seine Erwartungen nicht zu hoch ansetzen – man sieht halt einfach nur Verona von oben. Nicht mehr und nicht weniger.

Blick auf Verona von oben
Blick auf Verona vom Torre dei Lamberti

Auf der Piazza delle Erbe trifft man erstaunlich viele geführte Gruppen, die alle in eine Richtung strömen. Verona steht nämlich ganz im Zeichen der unsterblichen Liebe.

Arena und Herz in Verona
Verona im Zeichen der Liebe

Ein gewisser William Shakespeare ließ nämlich sein Drama „Romeo und Julia“ in Verona spielen. Und weil dieses Theaterstück über die Jahrhunderte doch eine gewisse Bekanntheit erreichte, wurde das Elternhaus von Julia zu einer der Hauptattraktionen der Stadt. Für sechs Euro darf man sogar den Balkon betreten, der Shakespeare zu der berühmten Balkonszene inspirierte, in der Julia ihre heimliche Liebe zu Romeo ausplauderte. Was bekanntermaßen zu einigen Verwicklungen und einer Hochzeit mit fünf Todesfällen führte.

Casa di Giulietta
Fans stehen Schlange in Julias Hofeingang
Liebeskritzeleien an der Hauswand von Casa Guilietta
Liebesschwüre an Julias Hauswand
Balkon von Julia
Julias Balkon

Eigentlich eine nette Idee – den Originalschauplatz des berühmtesten Liebesschwures der Weltliteratur zu besuchen. Wenn da nicht drei kleine Ungereimtheiten wären. Erstens war Shakespeare nie in Verona um sich inspirieren zu lassen. Zweitens spielt die fragliche Szene im Original gar nicht auf einem Balkon, sondern am offenen Fenster. Und drittens wurde „Romeo und Julia“ im 16. Jahrhundert geschrieben, während dieser Balkon erst 1930 nachträglich angebaut wurde. Die Investition hat sich wohl gelohnt, denn die Touristenströme sind nahezu endlos.

Der Hype um Romeo und Julia hat zu einem eigenartigen Phänomen geführt. Seit Jahrzehnten schreiben Menschen mit Liebeskummer Briefe an Julia, die von einem Club aus Ehrenamtlichen beantwortet werden. Früher wurden die Briefe mit einem Kaugummi an die Wand geklebt. Heute steht dafür ein roter Briefkasten bereit, aber irgendwie haben die Leute nicht kapiert, dass man die Kaugummis jetzt eigentlich nicht mehr braucht.

Briefkasten von Julia
Julias Briefkasten und Julias Kaugummis

Ich weiß gar nicht, wie verzweifelt man sein muss, um sich bei Liebeskummer Rat an dieser Adresse zu suchen. Denn schon nach kurzem Nachdenken sollte klar werden, dass Julia eine fiktive Figur aus der Feder eines Schriftstellers ist. Die zudem noch im fünften Akt verstirbt. Selbst wenn man diese Kleinigkeiten mal ignoriert, ein Doppel-Suizid zwei Tage nach der Hochzeit spricht nicht gerade für besondere Expertise in Liebesfragen.

Statue von Julia in Verona
Julia, „Senior expert in romantic love“

Also, wenn ihr mich fragt, alles in allem ist die ganze Sache mit Julias Balkon eine ziemlich sinnlose Angelegenheit, die man sich eigentlich sparen kann. Ich bin aber auch nicht gerade eine Koryphäe auf dem Gebiet der romantischen Liebe. Also macht, was ihr wollt! Und Verona ist trotzdem auf jeden Fall eine Reise wert.

Bis bald, euer Marco

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Autor: sinnlosreisen

Geschichten über die lustige Seite des Urlaubs

38 Kommentare zu „Sinnlose Orte, die die Welt nicht braucht – Julias Balkon in Verona“

  1. Verona ist sicherlich auch ohne Shakespeare eine Reise wert. Dieses Romeo und Julia Beiwerk wird eigentlich nicht benotigt zumal ohnehn alles fiktiv ist. Ich habe bei meiner letzten Durchreisewar bei meiner letzten Durchreise im Hotel Rossi ubernachtet. Das liegt nur 5 Minuten vom Hauptbahnhof entfernt und man kann dann umweltbewusst mit dem Zug nach Monaco in Bavaria weiter fahren.

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  2. War da noch nicht, aber ganz schön viel italienischer Flair so kurz „hinter“ den Alpen. Allein das Farbspiel von blauem Himmel und weißen Wölkchen mit den terracotta-Farben der Gassen und Hausfassaden gibt viel her. Danke für die Anregung „for later in life“ 🙂

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  3. Ha! Da hat sich die Trainingseinheit auf dem Säntis ja voll gelohnt: du hast es lebend hoch auf den Torre geschafft! Oder hast du tatsächlich den Aufzug genommen? Diesem Romeo und Julia-Gedöns könnte ich ja auch wenig abgewinnen. Da wären die Gladiatorenkämpfe doch deutlich mehr meine Sache gewesen. Aber jetzt mal im Ernst: danke für die Anregung! Verona hatte ich nie auf dem Zettel. Jetzt schon. Aber nicht wegen der Romantik.

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    1. Natürlich habe ich die Treppen genommen! 60 Jahre Leben im Schwabenland verbieten die Verschwendung von einem Euro für den Aufzug, wenn es auch umsonst geht. Grins.

      Freut mich ja, wenn ich dir auch mal eine Anregung geben konnte. Normalerweise schreibe ich immer deine Reiseziele auf meinen Zettel. Verona (und übrigens auch Mantua direkt daneben) ist sehr sehenswert und man kann beides en passant auf einer Italienreise mitnehmen. Falls man die zufällig nächstes Jahr planen würde…

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  4. Verona steht auf meiner Liste wegen einer möglichen Oper. Mein Mann und ich haben uns schlappgelacht über die Schmerzensschreie der zahnschmerzenden Sängerin.

    Deine Kurzfassung der Geschichte von Romeo und Julia trifft es auf den Punkt, finde ich.

    Deine Reiseberichte sind immer so erfrischend.

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  5. Na, auf den Balkon wäre ich auch nicht hochgekrabbelt. Den Treppenturm umso mehr. Wenn irgendwo eine Herausforderung in Form von „irgenwas-hochsteigen“ wartet, dann bin ich dabei.

    So. Nun sollte ich wohl etwas zum Thema Balkon und wahre Liebe zum Besten geben. Puh. Weiß auch nicht, wieso Leute so auf Liebesdramen stehen. Die ergeben zwar eine gute Geschichte, erstrebenswert sind sie wohl für uns Normalsterbliche nicht. Die Kaugummiwand und den Liebesbriefkasten finde ich wiederum spannend. Vielleicht würde ich mir auch was einfallen lassen, das dann am Ende in jenem Briefkasten landet. Vielleicht ein Liebesbrief an die Ehrenamtlichen, dafür, dass sie sich all die Mühe geben, die vielen Briefe zu beantworten…

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    1. Also bei genauer Betrachtung ist die Kaugummiwand hygienisch zumindest fragwürdig. Für die Ehrenamtlichen habe ich auch allergrößten Respekt. Immerhin geht es dabei sicher manchmal um verzweifelte Menschen, denen man wieder ein bisschen Mut und Hoffnung geben kann. Romeo und Julia sind da vielleicht nicht die besten Vorbilder mit ihrem überhasteten Doppelselbstmord. Aber sie können ja als abschreckende Vorbilder dienen.

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  6. Ich dachte immer, die Arena zu Verona wird für opulente Operninszenierungen deshalb genutzt, weil ein paar Elefanten reinpassen. Und trotzdem noch gewichtige Sänger!

    Was den Balkon angeht, den weder Shakespeare noch Julia je sahen: Doch, so funktioniert die romantische Liebe. Bei Tucholsky klngt es etwas harmloser (nach dem Happy End/wird für gewöhnlich abjeblendt), aber im Prinzip…

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    1. 😂😂😂

      Das liegt daran, dass es angeblich Glück in der Liebe bringt, wenn man den Busen der Statue berührt. Vielleicht gibt es auch ein paar Trittbrettfahrer, die die Chance nutzen, endlich mal eine Frau berühren zu dürfen, ohne eine gescheuert zu bekommen?

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