Ich bin nicht unsportlich! Ich bin Realist. So viel vorneweg.
Schon seit Längerem bringt mich mein Jugendfreund Jörg in Verlegenheit, indem er regelmäßig eine gemeinsame Bergtour vorschlägt. Eigentlich mag ich Bergtouren und die Aussicht auf einen Männertag ist verlockend. Aber ich sehe auf Instagram, wie Jörg mit Seil und Helm über Klettersteige kraxelt, deren Besteigung rein physikalisch nicht möglich ist. Und das macht mir Sorgen. Denn wie gesagt, ich bin nicht unsportlich. Aber als Realist erkenne ich den Unterschied in unserer Kondition.

Dummerweise sind mir inzwischen die Ausreden ausgegangen. Knie, Rücken, Fersensporn, Arbeit, Corona, zu heiß, zu kalt, Regen, Schnee, Urlaub, Hochzeiten und andere Termine. Alle Trümpfe sind bereits ausgespielt und in diesem Sommer muss ich wohl Farbe bekennen. Also planen wir eine Bergtour.
Da der Andrang am Mount Everest in letzter Zeit doch etwas zu groß geworden ist, entscheiden wir uns für eine weniger frequentierte Tour: den Säntis über die Nordostflanke.

Im Vergleich zu den überbewerteten Touren im Himalaya hat der Säntis drei unschlagbare Vorteile: er liegt direkt auf der anderen Seite des Bodensees und er ist nicht so hoch. Außerdem fährt eine Seilbahn bis zum Gipfel.
Jörg lebt schon immer nach dem Motto „No risk, no fun“. In unserer Jugend durfte er das elterliche Segelboot für Ausfahrten auf dem Bodensee ausleihen. Wir liefen immer dann aus, wenn die Sturmwarnung die anderen Boote in den Schutz der Häfen trieb. Einmal schossen wir nach einer solchen Ausfahrt mit erheblicher Schräglage bei gesetztem Spinaker bis in den Hafen des altehrwürdigen Württembergischen Yachtclubs – ein riskantes Manöver, denn ein Segelboot hat weder Bremsen noch Rückwärtsgang. Bei einigen unbedarften Zuschauern ernteten wir Bewunderung aber auf der Stirn des Hafenmeisters bildete sich eine Furche, die dem Grand Canyon Konkurrenz machte. Mit hektischen Aktivitäten und etwas Glück stoppte das Boot wenige Zentimeter vor dem Steg, wo uns mit hochrotem Kopf Jörgs Vater erwartete. Es war der letzte Segeltörn für lange Zeit.
Da meine eigene Riskobereitschaft deutlich kleiner ist, schaue ich mir die geplante Wanderroute sehr genau an. Und was ich da sehe, gefällt mir gar nicht. In Gedanken sehe ich schon meinen zerschundenen Leichnam in einem Bergungssack an einem Hubschrauber der Schweizer Bergrettung baumeln.

Während Jörg in Nordamerika die Naturparks rauf und runter wandert, versuche ich Zuhause die Treppe ins Obergeschoss ohne Atemnot zu bewältigen. Nach wochenlangem Aufbautraining mache ich ganz alleine eine Generalprobe, um meinen Stand realistisch einzuordnen: ich besteige den Pfänder, 600 Höhenmeter auf gut ausgebauten Wegen.
Als mich kurz nach dem Start eine Einheimische mit Kinderwagen überholt, tue ich so, als müsste ich mir die Schuhe binden. Nach zwei Stunden erreiche ich schweißgebadet den Gipfel. Beim Abstieg schwenkt mein linkes Knie die weiße Fahne und ich rette mich mit Hilfe meiner Stöcke humpelnd zum Parkplatz. Als Konsequenz streichen wir die Säntistour und planen stattdessen die Erstbesteigung der Sünser Spitze. Erstbesteigung für mich, denn vor uns waren hier schon Legionen von Wanderern.
Jörg deutet an, dass er am liebsten zum Sonnenaufgang am Berg ist. Da ich nun schon so viele Kompromisse einfordern musste, gebe ich mir keine weitere Blöße und stimme leichtfertig zu. Als der Wecker um 04:00 Uhr klingelt, frage ich mich aber doch, ob es das wert ist.
Und dann ist es endlich soweit. Wir machen uns in der Morgendämmerung an den Aufstieg. Ohne Sauerstoff, aber mit Asthmaspray und Schmerzgel. Und was soll ich sagen? Es wurde eine wunderschöne Tour mit herrlichem Panorama mitten durch die unberührte Tierwelt der Voralpen.








Beim Abstieg brutzelt die Mittagssonne ziemlich unbarmherzig auf uns herunter. Meine Wasserflasche ist längst leer und ich bereue, dass ich so wenig zum Trinken dabei habe. Leicht dehydriert tappe ich hinter Jörg her, der inzwischen auch etwas wortkarg ist. In einem Survival-Ratgeber hatte ich gelesen, dass man zur Not seine verschwitzten Socken auslutschen könne. Aber bevor ich zu so drastischen Maßnahmen greifen muss, erreichen wir die Portla-Alpe und zischen ein kühles Apfelschorle.
Das frühe Aufstehen hat sich dann doch gelohnt. Denn am Nachmittag bleibt nach einem herrlichen Tag noch Zeit für ein erfrischendes Bad im Bodensee.
Bevor jetzt Scharen von unbedarften Nachahmern in die Alpen strömen, möchte ich eine deutliche Warnung aussprechen: der Berg ist unbarmherzig, deshalb bereitet euch gut vor! Hier sind einige berühmte letzte Worte von gescheiterten Bergwanderern:
- „Die Stöcke waren gar nicht mal teuer“
- „Bis es dunkel wird, sind wir längst wieder unten“
- „Mir reicht ein Liter Flüssigkeit am Tag“
- „Komm hier lang, das ist eine Abkürzung“
- „Das sind nur Schönwetterwolken“
- „Lass uns unter dem Gipfelkreuz unterstehen, bis das Gewitter vorbei zieht“
Ach, übrigens: dies war mein Beitrag Nr. 100. Ich hätte nie gedacht, dass in meinem Hirn so viele unsinnige Geschichten lagern. Und wenn ich mich in meiner Erinnerung umschaue, finde ich immer noch einige Erlebnisse, die noch nicht erzählt wurden. Bis bald, euer sinnlos reisender Marco.
Schön, ich hoffe auf viele weitere sinnlose Etappen (und fühlte mich sehr verstanden, als du die Einheimische mit Kinderwagen erwähntest :-). In Norwegen fand ich es auch immer so semi, wenn so Fünfjährige an uns vorbeizischten.
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Danke. Ja, ich gönne ja jedem seine gute körperliche Verfassung. Man fühlt sich halt selbst immer gleich so schlecht, wenn Kinder oder sehr alte Menschen einen überholen.🤷🏼♂️
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herzlich gelacht, mehrfach. und viele erinnerungen gehabt. da musst du jetzt durch:
1. die abenteuerliche überfahrt über die theiß. nach einem herrlichen strandaufenthalt auf der gegenüber liegenden seite brach ein gewittersturm los. und mein bruder nahm das kleine paddelboot und meinte: „das schaffen wir noch.“ (scherz am rande: das bötchen schaukelte gar fürchterlich. die brücke, über die wir auch hätten gehen können, war nur 100m entfernt.)
2. ich, heute, schnaufte meinen berg hoch, so dass sich der hausmeister veranlasst sah, meine einkaufstasche für mich hoch zu tragen. ich versicherte (was stimmte), sie sei gar nicht schwer, es läge an der luft. er fragte mich, ob ich asthma habe. und ich nickte, obwohl das so gar nicht stimmt.
3. die erinnerung an die ältesten menschen auf der welt. da war ein italienisches dorf dabei. mehrere fast hundertjährige erklärten, sie gingen jeden morgen die fünfhundert steilen meter zur kirche hinauf (mein hügel ist ein schaaß dagegen). also in dem alter wäre ich schon längst vom glauben abgefallen. vermutlich jedoch sind die aus genau diesem grund so alt geworden.
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Danke für deine Erinnerungen, das beruhigt mich ja sehr!
Auf dem Wasser scheint es demnach ähnliche Chancen auf Desaster zu geben, wie am Berg 😅.
Dein Hausmeister meinte es bestimmt nett, aber ich verstehe, dass es frustriert.
Ich habe auch die Vermutung, dass Menschen, die am Berg wohnen, von Kindheit an eine bessere Kondition haben müssen. Da kommen wir Flachlandtiroler nicht gegen an. Bleibt uns nur der Galgenhumor…
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Herrlich! Hab Dich schon vermisst. Als Seglerin fand ich den „Sonnenschuss“ besonders aufregend. Ist die Hundertschaft auf Deinem Blog nachzulesen? LGLore
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Danke! Als Seglerin weißt du dann auch, wie riskant das war.🫣 Aber ging ja alles gut.
Ja, alle hundert Geschichten von mir sind auf meinem Blog.
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Gott sei Dank habe ich Jörg zu einem Essen anstatt einer Wanderung überreden können….
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😂😂😂
Das ist auf jeden Fall weniger Risiko.
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Der Übergang von den 8000ern erschien mir fließend. Toll, wie Du dem Yak auf dem Pfad ausgewichen bist, die heiligen Seen der Alpentibeter waren auch eindrucksvoll – und ohne Sauerstoff bist Du da hoch! Cool.
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Ja, nicht wahr? 😂😂😂 Wenn man nicht bis zum Himalaya kommt, muss man sich eben den Bregenzerwald schönreden.
Immerhin ist die Sünser Spitze 2061 m über dem Meer.
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Aber trotz allem: Tolle Wanderung! Meine/unsere einzige Bergwanderung war hoch zur Weßkugelhütte im Vinschgau (Südtirol), in 2500 m Höhe). Aber da war ich 56. Heute bin ich froh, eine Rolltreppe zu finden. Ich beneide Dich um diese schöne Bergtour!
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Ja, ja, ich will mich nicht beklagen. Angesichts meiner Kondition war das genau richtig.
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Na dann wärst du doch jetzt perfekt vorbereitet und trainiert für den Himalaya! Und ein Reisebericht aus deiner Feder wäre bestimmt ein Highlight. Muss ja nicht gleich der 101. Beitrag werden.
Für den Fall der Fälle hier schon mal die passenden letzten Worte: „Sauerstoff wird überbewertet“.
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😂😂
Ich fürchte , den Himalaya muss ich auf ein nächstes Leben verschieben, falls da noch eines kommt. Bin mir auch nicht sicher, ob man unbedingt da oben gewesen sein muss.🤔
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Glückwunsch… Zum 100. und zur erfolgreichen Besteigung.
Unser nächster Hügel hier hat 100 m… ich kann mir vorstellen, was du geschafft hast.
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Danke. Und alles ohne Sauerstoffmaske, Grins.
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Herzlichen Glückwunsch zum hundertsten Beitrag. Mögen dir die sinnlosen Reisen nie ausgehen. Es sieht nach einer wunderschönen Tour aus, aber ich glaube, am nächsten Tag weiß man, was man geschafft hat 😉 Meine höchste „Bergbesteigung“ waren um die 1600 Höhenmeter, und das nur, weil mich 1. ein Einheimischer erfolgreich davon überzeugt hat, dass kein Bus mehr fährt, der mir dann 2. eine Fahrt auf seinem Moped für den zehnfachen Preis andrehen wollte und ich 3. aus lauter Trotz zu Fuß losmarschiert bin. Und mir 4. nicht klar war, wie hoch das ist…
Die sechshundert Meter bin ich gestern erst hochmarschiert, die Wanderung war als „schwer“ gekennzeichnet. Hat alles super geklappt, der Turbo in den Füßen funktioniert noch und als ich am Abend nach Hause kam, erzählte ich Stefan stolz, dass ich ja nicht verstünde (*pfft*), was daran jetzt schwer gewesen sein soll. Was soll ich sagen: heute fühle ich mich wie eine misshandelte Großmutter. Alles tut weh. Und mein Liebster ist, glaube ich, ein wenig schadenfroh…
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Danke für die Glückwünsche, ich war selbst überrascht, dass es schon so viele Beiträge sind. Ja, Höhenmeter zählen zehnfach, ich hatte schon am selben Abend Mühe, die Treppe ins Obergeschoss würdevoll rauf zu kommen.
Schadenfreude ist aber unangebracht,wahr Helden machen selber mit 😇
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„Wahre Helden machen selber mit“, das gefällt mir richtig gut. Danke für die Munition 😉
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Das mit den Abkürzungen kommt mir bekannt vor. Wenn man zwei von der Sorte dabei hat mutiert der schwarze Grat (für interessierte: so ein Hügel bei Isny) zu einem der aufwändigsten voralpinen Ganztagsabenteuer.
Als Ergänzungslektüre empfehle ich Climbing the Rigi, Mark Twain. Ja, gibt es auch in Deutsch für nicht schwindelfrei Englischsprachige.
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Danke für die Tipps, werde ich vielleicht beides ausprobieren.
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Der Weg sieht sehr gut gangbar aus für mich, keine „Hängepartien“. Ich denke ihr musstet nicht klettern? Ich bin in meinen jungen Jahren (so Mitte 30) in den Pyrenäen wandern gegangen, da ging es dann auch einmal über einen Gletscher. Euer Weg, jedenfalls so weit man ihn in den Fotos sehen kann, sieht für mich daher recht angenehm aus. Die Sonne könnte mir Schwierigkeiten bereiten, das tat sie auch damals. Da erlebten wir auch, wie wichtig Wasser ist … 😉 … Aber saure Socken auslutschen, das ist hoffentlich ein Scherz! Aber wer weiss, manche sagen auch, man soll den eigenen Urin trinken.
Witzig mit der Kuh: „You shall not pass!“ Haha
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Ja, das war alles sehr gut machbar. Wegen der Sonne war ich froh, dass wir so früh los gelaufen sind.
Das mit dem Socken auslutschen war natürlich ein Scherz. Obwohl, wenn die Not sehr groß ist…
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Glückwunsch zum Artikel 100! Seit langem habe ich mal wieder bei dir vorbeigeschaut und beim Lesen geschmunzelt und gelacht. Als junges Mädchen war ich tatsächlich auf den Säntis – ohne Gondelbahn rauf und wieder runter- eine schöne Erinnerung, aber heutzutage undenkbar. Herzliche Grüsse aus Chennai Irène
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Danke. Freue mich über deinen Besuch. Viele Grüße nach Indien
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Erstmal vorneweg: Glückwunsch zum 100sten! Mögen dir hoffentlich noch unzählige weitere sinnlose Reisen genug Stoff liefern. Da sage ich jetzt mal aus rein egoistischen Gründen.
Na, da hast du deinen ehrgeizigen Kumpel ja ganz schön zurechtgestutzt, was die Wahl der Tour anging. Ganz so schlecht sieht‘s ja dann wohl doch noch nicht aus an der Ausredenfront😁. Aber ganz ehrlich: ich hätte an deiner Stelle ja auch ganz tief in die Trickkiste gegriffen, um die Angelegenheit sozialverträglich zu gestalten. Für mich, versteht sich. Großes Lesevergnügen by the way! Wie immer!
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Danke!
Bis vor kurzem war ich noch davon überzeugt, unsterblich zu sein. In letzter Zeit kamen mir jedoch Zweifel und daher werde ich langsam vorsichtig, was meine Fähigkeiten angeht. Selbstüberschätzung ist Todesursache Nr. 1.
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