Über den Ufern der Moldau steht die Installation „Time Machine“, die laut ihrem Erschaffer Vratislav Karel Novak den unerbittlichen Lauf der Zeit symbolisieren soll. Das umgangssprachlich als „Metronom“ bezeichnete Kunstwerk könnte aber auch die Verschwendung von Material (7 Tonnen) und Energie darstellen. Denn das Metronom wird von einem Elektromotor angetrieben und dreht sich einfach nur von links nach rechts und von rechts nach links. Und das endlos, ohne Sinn und Verstand. Nicht einmal eine bestimmte Taktfrequenz wird eingehalten, wie das bei anständigen Metronomen mit beruflichem Ehrgeiz üblich ist.

Dabei hat Prag bereits seit über 600 Jahren einen Zeitmesser, der sich gewaschen hat: die astronomische Uhr am Rathaus. Hier werden auf zwei Ziffernblättern jede Menge Informationen dargestellt. Oben werden neben der Uhrzeit die Sternzeit, die Planetenstunden, Sonnenauf- und untergang, Mondauf- und untergang, Dämmerungsphasen, die Mondphasen und die Jahreszeiten angezeigt.
Zusätzlich werden die böhmischen Stunden angezeigt, die eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang beginnen und bis 24 gezählt werden. Das sagt einiges über die Bedeutung des Nachtlebens in Prag aus. Außerdem zeigt die böhmische Uhr, in welchem Tierkreiszeichen sich Mond und Sonne jeweils befinden. Und das pünktlich seit dem Jahr 1420. Das ist schon erstaunlich, wenn man die Haltbarkeit heutiger Uhren bedenkt.

Das untere Ziffernblatt ist ein Kalender, der neben Tagen und Monaten die Namenstage der katholischen Heiligen anzeigt. Was aber die Touristen aus der ganzen Welt anzieht, sind die Figuren und Automaten. Zur vollen Stunde öffnen sich nämlich die beiden Fenster über der Uhr und über eine automatische Mechanik ziehen die zwölf Apostel an den Fenstern vorbei. Zum Abschluss kräht der Hahn über den Aposteln und der Sensenmann wendet das Stundenglas bis zur nächsten Stunde.

Mit diesem historischen Schwergewicht kann das Metronom sowieso nicht mithalten. Vielleicht hat der Künstler deshalb bewusst auf jeglichen Sinn verzichtet. Wenn man nach einer Daseinsberechtigung für das Metronom sucht, muss man schon in die Geschichte abtauchen. Denn das Metronom wurde genau an der Stelle errichtet, an der fünfzig Jahre zuvor ein noch sinnloseres Monument stand: das Stalindenkmal.
Als nach dem zweiten Weltkrieg klar wurde, dass die Sowjets sich aus der Tschechoslowakei nicht so bald wieder verkrümeln würden, dachte sich die Regierung etwas ganz Besonderes aus: Um den Diktator Stalin positiv zu stimmen, sollte ein überdimensionales Denkmal aus Granit bis in alle Ewigkeit auf die tschechische Hauptstadt herabblicken. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, an dem alle Bildhauer teilnehmen mussten. Ohne Ausnahme. Die Künstler versuchten mit allen Tricks, dieses ungeliebte Projekt nicht zu gewinnen, aber am Ende erwischte es denjenigen mit dem am wenigsten schlechten Entwurf.
Otakar Svec war der Unglückliche, der den Zuschlag bekam. In der Hoffnung, dass die Jury vor den enormen Kosten und der nahezu unmöglichen Realisierbarkeit zurückschrecken würde, hatte er ein Figurenensemble entworfen, das zum größten Denkmal Europas werden sollte. Er hatte hoch gepokert und wurde enttäuscht. Die Jury fand seinen Vorschlag würdig und angemessen und bestand auf einer Umsetzung.

Am 1. Mai 1955 fand mit viel Pomp die Enthüllung statt. Otokar Svec konnte diese Schande nicht ertragen und beging vier Wochen vorher Selbstmord. Der 17 Tonnen schwere Koloss aus Granit und Beton schien für die Ewigkeit gebaut. Allein Stalins Schuh maß zwei Meter. Doch die Ewigkeit dauerte in diesem Fall etwas mehr als sieben Jahre. Inzwischen hatte man nämlich in Moskau nachgedacht. Bei genauerer Betrachtung fand man Stalins Lebenswerk, das auf Terror, Genozid und vielen Millionen Toten basierte, nicht mehr zeitgemäß. Auf Befehl von Nikita Chruschtschow wurde das Monument 1962 gesprengt. Allerdings „respektvoll“, wie es offiziell hieß, ohne Filmaufnahmen und möglichst diskret.
Wie auch immer eine respektvolle, diskrete Sprengung mit Dynamit aussieht, jedenfalls lag das sinnlos gewordene Gelände dreißig Jahre lang brach. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion traute man sich 1991 auf dem politisch belasteten Boden eine unpolitische Installation aufzustellen: das Metronom.
Tja, die Prager haben ihr Rathaus voller Apps gehangen, bevor es Smart Phones gab. Visionär irgendwie.
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😂😂😂
Ja, so kann man es auch sehen. Mich würde interessieren, wieviele Menschen die vielen Informationen auf den Uhren überhaupt genutzt haben…
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Respektvoll und diskret sprengen hat etwas 🙂 Ebenso wie auf Stalins Trümmer ein Sinnbild von Takt und Zeit zu errichten.
Liebe Grüße, Reiner
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Stimmt. Bei mir lief auch das Kopfkino als ich die Bezeichnung gelesen hatte. Wie zum Teufel läuft eine diskrete Sprengung ab?
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Du weißt ja mehr über meine Geburtsstadt Prag als ich. Vielleicht sollte ich auch mal eine Sightseeing Tour machen und nicht immer im Gasthaus sitzen…
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Alles Recherche 😏
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Ist das ein Zeppelin auf dem Foto? 🤔
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Ja genau, gut beobachtet. Hab mich auch gewundert, dass der sich soweit weg traut…
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Nein. Das ist ein Prallluftschiff/blimp.
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Hm, warum so sicher? Auf dem Foto ist der ziemlich klein, aber in echt hat er mich schon sehr an die beiden Zeppeline erinnert, die wir jeden Tag mehrmals in Friedrichshafen sehen. Ich muss aber zugeben, dass ich da kein Experte bin.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Zeppelin_NT
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Ah, sorry. Das könnte tatsächlich einer der halbstarren Zeppelin NT sein. Als Technikgeschichtler kann ich ein Leichter-als-Luft-Fluggerät mit kompletter Außenblase allerdings einfach nicht als Zeppelin betrachten.
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Kein Problem, wir Laien sagen eh immer Zeppelin, wenn es irgendwie zigarrenförmig aussieht und vom Boden abhebt. Aber zur Sicherheit mal die Nachfrage: Habe ich deinen Kommentar missverstanden oder sagst du, dass ein Fluggerät, das leichter als Luft ist und eine geschlossene Hülle hat, kein Zeppelin ist? Waren die LZxxx-Zeppeline dann gar keine Zeppeline, oder wie? Bin gerade maximal verwirrt.
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Bis LZ 131 (nicht fertiggestellt) baut Zeppelin Starrluftschiffe: Die Außenhülle liegt auf einem Innengerüst mit arerodynamischer Form, die Gaszellen sind innerhalb dieses Gerüsts. Die Zeppeline NT haben eine aerodynamische Außengaszelle wie jeder Blimp , allerdings mit einem inneren Träger, an dem Gondel, Motor und so hängen.
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Aha, verstehe, daher die Bezeichnung NT wie Neue Technologie. Danke für die Aufklärung.
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Wenn es irgendwann explodiert, war es ein Zeppelin.
Dachte ich.
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😂😂😂
Jetzt verstehe ich auch, warum man bei uns häufig Zeppelinrundflüge an ältere Jubilare aus der Familie verschenkt. Investition in die Erbmasse 😇
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Ich finde ja, man hätte nur Stalin sprengen und die Arbeiter und Bauern und Soldaten und so stehenlassen können.
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Das wäre auch eine gute Lösung gewesen. Oder ganz nachhaltig: eine austauschbare Hauptfigur, die man je nach aktueller Politik aufschrauben kann.
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Schick diesen Vorschlag schnell nach Bautzen, die wollen da gerade aus unerfindlichen Gründen ein Bismarck-Denkmal errichten!
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Wahrscheinlich wegen dem Hering?
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Der kann auch Schnaps.
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„Wenn es irgendwann explodiert, war es ein Zeppelin.
Dachte ich.“ Naja. Blimps UND NT-Zeppeline explodieren zumindest in Zeitlupe ganz anders als richtige/äh klassische Zeppeline. Erstere mache halt exakt einmal Wupf, bei letzteren sind abhängig von der Permiabilität der Gaszellen auch mehrere in unterschiedlicher langer, insgesamt aber trotzdem eher kurzer Reihenfolge Explosionen möglich.
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Es war zum Ende des 17. Jh. in Mode gekommen, solche Uhren (und auch andere Automaten) zu bauen. Deswegen finden wir solche Uhren überall über Europa verbreitet. Sie folgten der Idee, dass unser Kosmos einer Uhr vergleichbar sei und folglich wurde der Uhrmacher als kleiner Gott angesehen. Eine astronomische Uhr zu besitzen war modisch, wenn man als Fürst etwas auf sich hielt.
Mit freundlichen Grüßen vom heute sonnigen Meer
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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Das war mir gar nicht so bewusst, aber das klingt nachvollziehbar. Und was damals die mechanischen Automaten waren, sind heute die Computerwelten und Apps.
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Jetzt wollte ich etwas kluges zur Uhr und Zeppelin schreiben, aber die fachkundliche Diskussion hat mich etwas ausgebremst… also, ähm… schöner Beitrag! 😉
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Tja, hätte auch nicht erwartet dass ein Zeppelin so eine Diskussion auslösen kann 😇
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Ein Metronom mit E-Motor? Ohne geht es nicht mehr, wie? Und welche Ewigkeiten, welche Unerbittlichkeit will eine menschengemachte Maschinerie, unsinnig oder noch unsinniger, denn darstellen? Irgendwann ist sie kaputt…
Da lob ich mir die fromme, abergläubische Uhr in der Stadt.
Und das Stalindenkmal. Allein schon die Monstrosität weist darauf hin. Auf die Monstrosität der stalinistischen Ägide. Mich rührt aber der Soldat am Ende. Er will nicht nach da vorn, er schaut sich um – da winken die Mädchen mit Blumen und Wodkaflaschen und ihren Hintern. Und er soll seinen Führern folgen und weiß doch, wenn er auf den bösen Feind stößt, dem es ganz genau so ergeht, dann bleiben die stehen udn schicken ihn vor! Nein, er will zurück, will fahnenflüchtig werden. Ach, wären das doch alle! Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin…
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Was passiert eigentlich, wenn man den Stromzehrer abschaltet? Den künstlichen Taktgeber? Das Metronom sich selbst überläßt?
Bleibt dann die Welt stehen? Oder zeigt es dann womöglich den echten Welttakt an (und wollte man das, ganz unpolitisch, durch den Einbau des Motors vermeiden)?
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😀😀😀
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